Geest und Berge


Plattland
Am vorletzten Tag unseres Urlaubs fahre ich von unserem Domizil, einem Wohnwagen auf der Halbinsel Nordstrand, nach Rendsburg, die Stadt, in der ich einst aufgewachsen bin. Ich hole dort das Mietauto ab, das uns von dem Urlaubsort wegbringen soll. Dreiundsiebzig Kilometer sind es bis dorthin. Keine wirklich lange Tour, aber gerade eben so weit, um sich mal ein bisschen der Straße hinzugeben. Mein Fahrrad dafür ist ein klassisches Fixie mit achtundzwanzig Millimeter breiten Reifen und einer Siebenundvierzig zu Siebzehn- Übersetzung. Ich fahre es seit ca einem halben Jahr und bin immer noch ziemlich verliebt. Auch wenn ich bereits echte Nachteile an Steigungen bemerken durfte. Aber die gibt es ja im platten Schleswig-Holstein nicht wirklich. Die Strecke selbst kenne ich wie einen guten Freund- bin ich doch meine gesamte Kindheit hindurch jeden Sommer an Wochenenden mit meinen Eltern auf den Campingplatz gefahren, von dem ich jetzt aus starte. Ich brauche also keinen Navi, nehme ihn aber trotzdem mit, schon allein um den Weg aufzuzeichnen und später mit meiner Geschwindigkeit angeben zu können. Glücklicherweise brauche ich nicht viel. Eine Regenjacke, Sonnencreme und einen Liter Apfelschorle. Los geht’s.  

Österreich
Nach unserer Zeit in Norddeutschland sind wir in Bayern. Ich komme ja aus dem hohen Norden. Mein Weib allerdings aus Oberbayern, wo wir nun ihre Familie besuchen. Einer meiner bayrischen Schwager ist begeisterter Mountainbiker, fährt ein sündhaft teures Liteville, welches er allerdings schon einmal während eines Rennens geschrottet hat. Rahmenbruch. Was eigentlich völlig unmöglich ist, wenn man den Entwicklern von Liteville glauben schenken mag. Seitdem wird er lustigerweise zu ziemlich günstigen Konditionen mit Qualitätsware von gleicher Firma beliefert. Er wollte mich schon immer mal netterweise zum Trail- fahren ausführen, und so organisiert er einen Tag in den Bergen für seinen Bruder und mich. Das „Bike-Eldorado“ in Saalbach-Hinterglemm (Österreich) ist unser Ziel. Am Tag der Anreise reserviere ich mir noch ein knallgrünes Enduro von KTM bei einem der örtlichen Halsabschneiderläden für den nächsten Tag, und wir streifen durch den Ort, besteigen den Kletter- und Wandergarten des „Baumzipfelweges“ in dem etwas abseits liegenden Hinterglemm. Ein ausgeklügeltes, touristisches Konzept ist das hier! Mein kleiner Sohn ist restlos begeistert! Sowohl ist an die Kinder, als auch an die sportlich orientierten Erwachsenen gedacht worden. Was mir aber direkt in Saalbach auffällt, sind die zahllosen Mountainbiker, die gekleidet wie Eishockey-Spieler und völlig dreckverschmiert durch das Örtlein cruisen. Ein wie angelerntes, breites Grinsen und der Einheitslook einschlägiger Mountainbike-Kleidung machen mich erstmal mißtrauisch. Sobald der Trend sich vor das eigentliche sportliche Ereignis schiebt und ein „Trendsport“ draus wird, ist der Drops ja eigentlich gelutscht. Das kennt man ja schon von der Musik. Popkultur, ik hör dir trapsen!  


Wind
Um von der Insel Nordstrand weg- oder hin zu kommen, gibt es nur einen Weg: Den Damm. Damals, in den Siebziger Jahren, wenn wir auf Nordstrand ankamen, haben wir von ihm aus immer geschaut, ob gerade Flut oder Ebbe im norddeutschen Wattenmeer herrschte. Heute ist das nicht mehr so leicht, da zumindest eine Seite seit 1992 mit einem Koog vorgebaut ist. Dort existiert nun ein riesiges Natur- und Vogelschutzgebiet, das von der Insel bis ans Festland reicht, und somit die Insel auch keine Insel mehr sein lässt, was aber von den Nordstrander Insulanern nicht wirklich wahr genommen wird. Wo heute geschütze Vogelarten brüten können, haben wir damals nach Überbleibseln der versunkenen Stadt Morsum gesucht, die nach der großen Sturmflut 1977 frei gelegt wurden, nachdem riesige Massen des Watt-Schlicks weggespült wurden. Ganze Tonkrüge, Knochen und Werkzeuge wurden damals dort gefunden. Ich müsste heute noch irgendwo einen versteinerten Kuh-Knochen haben, der dort, konserviert im Watt, auf mich gewartet hat, wenn ich ihn nicht bereits weggeschmissen habe. Mit dem Blick auf diese Salzwiesenlandschaft biege ich um die langgezogene Kurve auf den Damm ein, mich über den eher schlechten Radweg ärgernd. Auf der gesamten Insel ist nämlich Radwegbenutzungspflicht angeordnet, was bei einem 27er Schnitt nicht wirklich Spaß macht und von mir deshalb auch gerne mißachtet wird. Nur auf dem Damm sollte man sich wirklich fern der Autos bewegen. Dort herrscht Tempo 100 und viel zu wenig Platz. Aber da ist noch etwas anderes was mich ärgert. Wir haben starken Ostwind. Und ich muss nach Osten...  


Protektor
So langsam wird mir mulmig. Matti, der Enduro-Experte kleidet sich ein, und ich muss beim Frühstück zur Beruhigung eine riesige Schüssel Müsli mit Früchten essen. Seine „Protektoren“ an Knie, Ellenbogen und Kopf machen mir ein wenig Angst. Im Bike-Verleih dann der nächste Schock: die Protektor- Dinger für mich werden einzeln berechnet. Ein teurer Spaß ist das: Neunundvierzig Euro das Enduro, Zwanzig Euro für das Gesamtpaket Protektoren. Ich versuche zaghaft zu rebellieren, aber sowohl Matti als auch der Österreicher, den ich kaum verstehe, überzeugen mich über die Wichtigkeit der ganzen Ausstattung. Nach einigem Hin- und Her hab ich mein Zeugs zusammen und sehe damit aus wie ein Skater- Robocop. Eben wie alle Biker hier im Ort. Die meisten von denen, wie ich dann an der Gondelstation sehen kann, haben sogar noch Brust- und Rückenpanzer auf ihren Heldenkörpern draufgeschnallt. Nicht zu sprechen von den bunten, stylischen Schriftzügen, die das ganze Sportsvolk garnieren. „Soldaten auf Acid“, so schießt es mir durch den Kopf. Meinem Sohn muss ich mich später unbedingt in dieser Montur präsentieren, er wird auf ewig in Respekt vor mir versinken! Ich mache mir langsam Sorgen, daß das ganze in Arbeit ausarten könnte, so ernst sind die Gesichter der in einer langen Schlange vor der Gondel Wartenden. Kompliziert auch das Besteigen der Gondel. Maximal fünf Radler passen mit ihrem Gerät da rein. Hinterrad aufgestellt und Lenker versetzt, werden wir in das schaukelnde Dings hineingepresst. Das Vorderrad Mattis schmiegt sich verliebt an meinen Hals, und ich ärgere mich, daß ich mein Lauf-Longsleeve nicht mit sechzig Grad gewaschen habe, aber irgendwie ist auf frecher Nachfrage meinerseits jeder der Anwesenden überzeugt davon, daß er jetzt schon selbst unerträglich nach Schweiß stinkt. Wahrscheinlich ist das auch so, aber der eigene Schweiß ist einem auch in so einer engen, heißen Gondel doch am nächsten. Glücklicherweise. Die beiden anderen Biker aus Leipzig lachen über unsere Witzchen und gestehen, daß sie im Osten keine Berge haben. Erst jetzt bemerke ich, daß ich mein Telefon vergessen habe, ein Foto von dieser absurden Situation würde ich gerade nur allzu gerne machen. Denn abgesehen von unseren lustigen Verrenkungen in der Gondel ist nämlich das Panorama ganz schön atemberaubend! Das „Steinerne Meer“ erstrahlt in seinem mächtigen Glanz, und fünf stinkende Berufsjugendliche schaukeln mit Geräten im Wert von zehntausenden Euros dem Gipfel entgegen.


Husum
Der Damm macht mich fertig. Nein, der Wind macht mich fertig. Der Wind auf dem Damm macht mich fertig. Dort ist kein Baum, kein Haus, links und rechts nur Salzwiesen und blökende Schafe. Wie nackt und ausgeliefert werfe ich mich dem Feind entgegen, aber ungefähr auf Hälfte des Dammes kommt mir zum ersten Mal der Gedanke, daß der Wind wahrscheinlich nicht aufhören wird. Im Gegenteil, ich habe den Eindruck, daß er immer stärker wird. Wenn es anderswo Berge gibt, die man nur mit Superdupersonderritzelübersetzungen erklimmen kann, so ist es in Norddeutschland der Wind, der eine Herausforderung darstellt. Und ja, ich habe nur das eine Ritzel. Verdammte Axt. Endlich bin ich am Ende des Dammes angelangt und die Straße nach Schobüll beschreibt eine lange Rechtskurve, die mich langsam aber sicher schräg zum Wind stellt. Erleichterung macht sich breit und ich trete mich gleichmässig wieder in einen siebenundzwanziger Schnitt hinein, nicht ohne zu bemerken, daß neben dem völlig unmöglichen Rad/Fußwegen wieder überall blaue Radschilder (Zeichen Zweihunderteinundvierzig- die verhasste Radwegbenutzungspflicht) gesetzt sind. Erstaunlich aber wie nachsichtig hier Autos überholen. Obwohl wenig Platz auf den Straßen ist, wird fast immer der vorgeschriebene Mindestabstand von 1,50 Meter eingehalten. Da kann man mal sehen, wie entspannt die Leute im Urlaub, und in einer schönen Landschaft unterwegs sind. Erst in Husum werde ich einmal von hinten wütend angehupt. Aber das soll auch schon der einzige Vorfall dieser Art für die gesamte Tour sein. Bei Kilometer Achtzehn, mitten in Husum, werde ich unsicher ob des Weges. Ich schlage im Handy nach und überprüfe die Route während ich an einer Ampel halte. Komoot zeigt genau den gleichen Weg an, den ich damals immer und immer wieder mit meinen Eltern in ihrem kleinen VW-Käfer zurückgelegt habe. Sehr gut, das gibt mir Sicherheit. Ich durchquere Husum, nicht ohne die verwunderten Blicke anderer Radler zu bemerken, die erst auf meine Existenz jenseits des Radweges, und dann auf die spezielle Form des Fixies zielen. Ein bisschen großstädtischen Stolz spüre ich schon in mir, und mich durchfliegt der Gedanke, auf die blöden blauen Schilder eines der immer von mir mitgeführten Aufkleber der „Critical Mass Köln“ zu pappen. Aber ich möchte ja meinen Schnitt nicht versauen und kämpfe mich weiter auf die Landstraße nach Mildstedt vor.


Himmel und Hölle
Der Gipfel des Kohlmaiskopfes ist erklommen! Juhu! Wie erlöst stolpern wir aus der schaukelnden Gondel heraus. Eigentlich macht es ja mehr Spaß selber die Höhe mit den Rädern zu erklimmen, als sich mit diesem technischen Aufwand einer den Berg zerstörenden Gondelanlage hinaufbefördern zu lassen, aber für solche Weltverbesserungsgedanken ist hier oben kaum Zeit. Ein kurzes, atemloses Briefing von Matti klärt mich auf: Besser nichts überstürzen! Das ist insofern komisch, als daß er sich selbst ein paar Sekunden nach seinen Ausführungen die enge, ausgehölte Mulde den Abhang hinunterstürzt, als wären gerade hinter ihm mehrere Atombomben gezündet worden. Stirnrunzelnd und etwas verdattert schaue ich ihm etwas skeptisch hinterher, wie er Haken schlagend den Weg hinunterwedelt. Auch sein Bruder, Flo, verabschiedet sich dann mit einem knappen „Bis später“ und stürzt sich als Nächster hintendrein. Ich muss ein paar Mal tief durchatmen und dann traue ich mich auch. Ich muss ja nicht mal treten - denn es geht abwärts! Erfreut über die guten Bremsen stottere mich über Stock, Stein, Loch, Wasserloch, Fels, Wurzeln und Schotter. Überall liegen irgendwelche Steine herum, die mir Angst machen. Der Abgrund, rechts oder links- so genau will ich das garnicht wissen, schießt wie ein Höllenschlund an mir vorbei und ich versuche mich immer an den Blumenwiesen auf der jeweils anderen Seite zu orientieren. Dort die Himmelswiese, da die Hölle. Dante muss Mountainbiker gewesen sein! In den Kurven bin ich viel zu ängstlich. Und auch zu langsam. Immer stört mich irgendwas, als daß ich mich gerne in die von unzähligen Reifen gekennzeichneten, hochgezogenen Kurven hineinstürzen könnte. Doch dann merke ich immer mehr, wie ich mich auf mein Gerät verlassen kann. Selbst wenn Matti vorher meinte, daß KTM nicht unbedingt die anerkannteste Herstellerfirma für Mountainbikes ist, so spüre ich doch wie ich Sicherheit durch das Profil der Reifen, die Geschwindigkeit der Kugellager und der Federungen habe. Das macht mich offensichtlich etwas zu sicher. Zu steil fahre ich in einen langgezogenen Anlieger des Milky Trail auf dem Kohlmaiskopf und hups ... komme auf der anderen Seite der Kurve wieder heraus und spüre schon, daß das hier in einem Sturz enden wird. Glücklicherweise kann ich mir noch rechtzeitig einen schönen Grasbüschel aussuchen. Das Rad und ich, wir trennen uns- ein grünes KTM verschwindet im Trail und ich selbst koste ein wenig von köstlicher, österreichischer Blumenwiese. Lecker!  


Dicke Männer und ein Liebespaar
Mildstedt. Ich verlasse den Küstenbereich um Husum, in dem das Wetter traditionellerweise verrückt spielt. Das ist nämlich eigentlich meine stille Hoffnung gewesen, daß mich hier etwas anderes erwartet als der steife Ostwind. Früher war es immer so, daß wenn es in Husum geregnet hat, auf Nordstrand eitel Sonnenschein war. Warum soll dann nicht hinter Husum einfach auch mal der Wind drehen? Tut er nicht. Im Gegenteil. Bei Kilometer Vierundzwanzig macht die Straße, die mittlerweile nicht mal mehr einen verhubbelten Fahrradweg neben sich führt, eine langsame, aber nicht enden wollende Linkskurve und führt mich mitten hinein in das Auge des Zorns, meines Feindes, dem bösen, gemeinen Ostwind. Wie ich später erfahre, sind bereits Menschen an der Ostküste Schleswig-Holsteins ertrunken, weil der Ostwind auch dort wütet. Nun gut, vielleicht ist es nicht der gleiche, der mir hier begegnet, aber auf der Ostenfelder Landstraße, die lang, lang an hochschießenden Windkrafträdern vorbeischießt, bin ich wieder genau so ausgeliefert wie vorhin auf dem Nordstrander Damm. Bei Kilometer Siebenundzwanzig halte ich an einem Viehgatter, um Flüssigkeit und Riegel zu mir zu nehmen, und auch endlich einen der „Critical Mass“- Aufkleber loszuwerden. Vielleicht fängt der Bauer an, Fahrrad zu fahren wenn er den sieht. Wer weiß. Die etwas verschlafenen, norddeutschen Dörfer Ostenfeld und Hollingstedt folgen. Hier haben wir damals oft angehalten, um die sich dort ansiedelnden Störche zu beobachten. Extra für deren Nestbau aufgestellte Betonbäume säumen die Straße und Hollingstedt, mein Lieblingsdorf auf der Strecke, hat noch ein anderes Leckerli für mich bereit gehalten. Es gibt hier eine wunderschöne Badestelle an dem Flüsschen, durch das vor tausend Jahren die Wikinger kamen, um ihre Schiffe übers Land zu transportieren. Als ich mich, erschöpft vom ständigen Gegenwind, vom Rad fallen lasse und dem Wasser nähere, werde ich mißtrauisch von zwei dicken, jungen Männern gemustert, die fast regungslos im Fluss stehen. Irgendwo neben ihnen knutscht, ebenfalls bis zur Hüfte im Wasser, ein Pärchen. Ich presse ein mürrisches „Moin“ heraus, und rotze einen Mund voll Radlerspeichel ins Schilf. Das „Moin“ der Dorfjugend folgt stante Pede, und desinteressiert schweifen ihre Blicke wieder von mir zu den Küssenden. Mein Gesicht freut sich über das kalte Wasser der Treene. Ich fülle auch meine Mütze damit, wringe sie sacht aus und setze sie wieder auf. Ich muss weiter. Durch die Tropfen, die von meinem Mützenschirm auf den Lenker plumpsen, beobachte ich nochmal die absurde Szenerie an der Badestelle. Auch die vier Jugendlichen schauen mir stumm hinterher.  


Aua
Plötzlich ist Matti neben mir und redet beruhigend auf mich ein. Der Sturz hat mich ein wenig durcheinandergewirbelt, aber es scheint Alles noch ganz heile. Ich erkläre ihm meinen Fehler und er gibt mir Tips, was ich gerade in den Anliegern besser machen kann. Immer schön da rein fahren. Immer schön dort fahren, wo tausende Andere auch schon gefahren sind. Klingt logisch. Plötzlich müssen wir zurückweichen in die Grasbüschel und ein paar Biker schießen an uns vorbei. Von weiter oben hören wir Stimmen. Zwei Biker. Zu Fuß. Einer führt zwei Räder den Trail hinunter, ein anderer humpelt ihm mit freiem Oberkörper und einem merkwürdig angewinkelten Arm hinterher. Den hat’s wohl schlimmer erwischt als mich. Beide sehen nicht unbedingt wie Anfänger aus und ich denke mir: „lieber das Gras küssen als Schlüsselbeinbruch.“ Wir warten nicht auf sie und lassen uns weiter den Berg hinabfallen. Es folgt wieder einiges an Steinen, Löchern und Kurven und meine Konzentration ist gefragt. Ich begreife langsam, was diesen Sport ausmacht. Es ist nicht die federnde Kraft in den Beinen, die ich gerade brauche, weil mir die Technik fehlt, es ist auch nicht die in den Armen, oder mit welcher Kraft der Lenker von meinen Händen gehalten wird und wann dort die Ballen zu schmerzen beginnen, es ist meine Konzentration, die langsam ob dieser Anstrengungen des Körpers schwindet. Die wird hier gerade trainiert. Unten angekommen lasse ich mir von meinen beiden Begleitern eine gute Anfängerqualität bescheinigen und wir machen uns auf zur nächsten Gondel. Jetzt geht’s auf zum Westgipfel, der Hacklbergtrail ruft!  


Hirschland
Der Wind, das himmlische Kind, hat sich leicht eine andere Richtung überlegt. Ost gefällt ihm nicht mehr und er hat sich mit dem Norden angefreundet. Das ist gut, denn dann ist er von mir ein wenig abgelenkt. Kurz vor Dörpstedt gibt er mir sogar ein wenig Schwung. Jetzt hatte ich mich auf den Kampf eingestellt, und dann das! Ich bin sehr dankbar. Doch leider ist es nur eine Finte des Weges. Direkt nach der Kurve in Dörpstedt steht mein neuer Kurs. Nord-Ost. Na toll. Ich kämpfe mich nun also weiter durch dieses unglaublich häßliche Dorf. Gott, ist das häßlich! Ich stelle mir vor, wie trostlos es sein muss, in so einem Grauen aufzuwachsen. Entweder du nimmst Drogen oder bist Nazi. Es besteht nämlich aus nichts Anderem als einer verdreckten Straße. Links und Rechts reiht sich ein Häuschen an das nächste, alle sehen irgendwie schlimm aus. Entweder mit Stacheldraht versehen oder arg renovierungsbedürftig. „De Schlagboom“, eine ehemals bekannte Dorfschänke, brannte hier irgendwann in den Achtzigern bis auf die Grundmauern aus. Zwei Jahrzehnte konnte man die verkohlten Reste dieses ehemals reetdachbedeckten Hauses bewundern. Wie ein vergammelter Zahn stand die Ruine an der zentralen Stelle des Dorfes. Man sprach damals von einem Versicherungsbetrug, und dann wollte, oder konnte es Niemand kaufen- ich weiß es nicht. Heute sind dort frisch renovierte Eigentumswohnungen zu bewohnen. Aber auch die sehen schrecklich aus. Ich frage mich, ob es in diesen seelenlos aufgehübschten Spießerträumen wohl spukt? Vielleicht geht dort heute ja der Geist des Brandstifters um! Schnell weg. Der Ortsausgang ruft mir noch zu, dass ich einen Fernseher kaufen soll, denn hier regiert der örtliche Elektrotechnikverkäufer, aber ich fliehe was das Zeug hält. Ich gewinne nun an Fahrt, denn die Straße ist leicht abschüssig. Und der Wind hat nachgelassen. Das wirkt. Allerdings bin ich gezwungen auf der Straße zu fahren. Und die Autos rauschen hier mit 120 Km/H vorbei. Kein gutes Gefühl, denn es ist doch recht eng hier. Ich lasse mich nicht beirren, trete und ziehe was das Zeug hält. Die Bäume des angrenzenden Waldes stehen recht nah und ich erinnere mich: Wenn man da Nachts mit Fernlicht durchfährt, hat man ständig Angst, daß Wild von der Seite in die Windschutzscheibe springt. Ich spüre, wie die vorbeirauschenden Autos mich zu mindestens siebzig Prozent als Hirsch begreifen.  


Natur erleben
Auf der Straße Fahren mit so einem Enduro All Mountainbike ist ja jetzt nicht so die allertollste Angelegenheit. Sicher, man fühlt sich wendig, und eigentlich würde man doch am liebsten immer wieder irgendeinen Abhang hochfahren oder spaßeshalber zwischen Bürgersteig und Straße hin- und herspringen. Und weil das so ist, haben sich die Mountainbiker etwas lustiges ausgedacht: Sie fahren auf dem Hinterrad. Das kann ich natürlich nicht, aber ich bewundere Mattis Ausdauer, mit der er dieses Kunsstück zur Schau stellt. Ich würde ja gern auch ein bisschen Stolz sein, so wie die anderen posenden Biker. Stolz auf den schwierigen Trail, den ich gerade gefahren bin, von dem die Dreckspritzer an meiner Kleidung und dem Radl zeugen. Die kleben an mir wie Orden an der Brust eines Soldaten. Ich könnte die Blicke der Passanten auf mich ziehen, die in Wandermontur etwas verständnislos und ängstlich auf diese jungen Menschen blicken, die mit ihrem Dingsbums da so modern aussehen. Aber Etwas hält mich ab. Ich weiß nicht genau was es ist. Vielleicht komme ich mir doch etwas lächerlich vor. Denn ich will ja eigentlich gar keiner Comicfigur gleichen. Den Sattel auf dem ich sitze kann ich mit einem Knopf am Lenker hoch- und runterfahren. Sehr praktisch. Denn bei der Abfahrt stört er nur, und beim normalen Fahren würde ich ihn schon vermissen. Ich probiere ihn jetzt auf der Straße immer wieder aus, und weiß daß das lustig aussieht. Jetzt fühle ich mich etwas besser. Der „Schattberg-Express“ wartet schon. Nein. Er wartet natürlich nicht. Ist ja ne Gondel, und Gondeln warten nicht. Wir haben diesmal Glück. Der Andrang vor den Gondeln hat sich gelegt, und wir können entspannt und ohne uns schlimm zusammendrücken zu müssen in der Gondel stehen. Wir überlegen uns, was wir tun würden, wenn wir jetzt hier eingeschlossen wären und es keine Rettung gäbe. Dreißig Meter unter uns bis zum Boden und hundert bis zum nächsten Stahlturm. Uns fällt nicht viel ein. Mir kommt es gerade ziemlich unglaublich vor, daß es Menschen gubt, die sich an eben solchen Stahlseilen, wie sie unsere Gondel halten, nur an einem Karabiner hängend, von Gipfel zu Gipfel bewegen. „Das hat doch nichts mehr mit der Natur zu tun“, so schießt es mir durch den Kopf.  


Geist
Die Straße nach Groß Rheide führt mich an Bauernhöfen und nicht enden wollenden Feldern vorbei. Der Streß, sich vor dem motorisierten Verkehr fürchten zu müssen, treibt mich auf den Radweg. Erst auf den linken, der für beiden Richtungen freigegeben wurde, dann wieder auf den rechten, als der linke plötzlich endet. Ich bin genervt. Tatsächlich merke ich schnell, daß es keine Radwege sind, die ihren Namen verdienen und ich versuche Baumwurzelsprünge einzulegen. Ein hetereosexuelles Pärchen mit Hardtails kommt mir entgegen, sie schleppen riesige, rot leuchtende Packtaschen an ihren Farrädern mit sich. Vielleicht, weil man hier so selten anderen Fahrradfahrern begegnet, vielleicht auch nur weil der Weg so eng ist halten wir an und grinsen ein wenig debil. Ihre etwas verwunderten Blicke auf mein Creme bemerkend frage ich sie kurz: „Wird das da hinten besser?“ und deute auf die Baumwurzeln. „Kaum“ sagt der Mann, und woher ich käme. Von der Küste, soso, sehr interessant, wo denn dort ein Zeltplatz sei. Ich bin nicht auskunftsscheu, und so fahren die beiden, freundlich nickend weiter. In Schleswig-Holstein kann man als Radler noch echte Gemeinschaftsgefühle auf den Landstraßen erleben. Auf der Straße geht’s wieder besser, schneller und flugs fliege ich nach Groß Rheide hinein. Ein extrem verschlafenes, aber durch und durch gepflegtes Dorf. Ich frage mich, ob die Bewohner um den ersten Platz im Blumenpflanzen kämpfen, denn es blühen die Vorgärten in allen Farben. Kinder laufen halbnackt und Barfuß auf dem Gehweg, so selbstverständlich, als wären sie in in ihrem Wohnzimmer. Als ich vorbeidüse bleiben sie wie angewurzelt stehen und starren, als hätten sie einen Geist gesehen.


Toilette
Die Aussicht in so einer Gondel wird ja jäh durch die Gondelstation beendet. Dort muss man sich dann auch erstmal zurechtfinden, denn die Türen gehen auf, die Gondel gondelt weiter. Du musst raus, die Gondel gondelt noch weiter. Dann musst du zur anderen Gondel, in der dein Fahrrad steht, das dort herauszerren, während die Gondel immer noch weitergondelt. Du bekommst allerdings Hilfe von einem Typen mit einem Anzug wie aus einem Heimatfilm und du verstehst kein Wort von seinem Kauderwelsch. Aber zum Abschluß lächelst du lieb, auch wenn er dich gerade wahrscheinlich einen totalen Vollidioten geschimpft hat. Das Gute an Gondelstationen ist ja, daß sie total saubere Toiletten haben. Hier könnte man sogar übernachten. Das riecht so toll und ist alles blitzeblanke. Aber sowas von! Mitten in der wildesten Natur wird der olle Mensch mit seinem Enduro hingeschmissen und schmeißt sich dann gar selbst in den Dreck, aber wenn er scheißen muss, dann soll’s auch schön geputzt sein! Wir schieben Die Fahrräder jetzt. Verdammt. Ich hatte zuerst ja gedacht, daß es sich für so einen Mountainbiker nicht gehört, das verdammte Radl zu schieben, aber jetzt ist mir das auch egal. Ich pfeife auf dem letzten Loch, denn es geht gefühlte 45 Grad Bergauf. Die Gondelstation ist noch nicht der Gipfel, und auf den wollen wir ja, schon weil wir dann wieder runterfahren wollen. Eigentlich ein bisschen deppert, so aus transporttechnischen Beweggründen gesehen, aber es handelt sich hier ja glücklicherweise um Sport. Ich wundere mich noch, daß an so einem Berg nicht mehr passiert, weil ja ständig irgendwas runterfallen könnte, da kommt ein Schaf hinter einem Stein hervor und knabbert an diesem lächerlich grünen Berggras. Ich könnte ihn ja jetzt von seinen Kumpels auf der Hallig grüßen, auf der ich mich noch vor drei Tagen befand, aber ich habe keine Zeit. Ich muss schieben. Endlich, die Hochalm. Die hat auch ihren Namen verdient, und die Anderen machen schöne Fotos von den Wolken, die sich unter uns im Tal ausbreiten. Ich vermisse ein wenig mein Handy, esse einen mitgeschleppten Schokoriegel, doch der Frieden währt nicht lang. Matti drängt zum Aufbruch und kaum hat er die Vorzüge des nächsten Trails beschrieben, stürzt er sich schon wieder in so eine Furche hinein. Ja, das ist auch mein Weg sage ich mir und könnte mich ohrfeigen. Obwohl ich schon vor Monaten das Rauchen aufgegeben habe, würde ich jetzt gerne. Ich trete die Pedale und stürze hinterher.  


Wagenrad und Schleichweg
Außer Blumen, Reetdachhäusern und spielenden Kindern gibt es in Groß Rheide noch das „Wagenrad“. Eine Dordisko. Kneipe ehemals. Verkauft sich heute unscheinbar als Dorfgasthof. Aus Erzählungen meiner Geschwister weiß ich, daß sich dort in den siebziger, achtziger Jahren gerne auch mal Rocker trafen, und die Kneipe dadurch in zweifelhaften Ruf geriet. Meine Kinderphantasie malte damals jedesmal gefährliche Bilder von Hells Angels, wenn wir hier vorbei fuhren, und das Gebäude wurde vor meinem inneren Auge zu einer wahren Räuberhöhle. Das hölzerne Wagenrad, das zur Dekoration und als Namensgeber auf der anderen Seite der Straße immer noch an einem großen Stein befestigt ist, sieht dabei so harmlos aus! Die Hauptstraße will mich aus dem Ort herausführen, aber ich weiß es besser! Ist doch meine Mutter damals immer den „Schleichweg“ gefahren. „Sollen wir heute wieder den Schleichweg fahren?“ fragte ich oder meine Schwester, wenn wir damals von Nordstrand zurück nach Rendsburg fuhren. Wir hofften nämlich, daß sich meine Mutter hier dazu bewegen ließe ein paar Blumen, oder Sträucher zu pflücken, denn dann konnten wir nach Mais Ausschau halten. Zum Abendbrot war der mit Butter bestrichen eine willkommene Abwechslung. Außerdem hatte das Mais klauen eine gewisse illegale Komponente, die uns ein bisschen Aufregung versprach. Leider würde Derjenige, der das heute versuchte, nicht viel Spaß daran haben. Es sei denn, er isst gerne Kieselsteine. Ich bin überrascht. Der geheime Weg ist tatsächlich für Fahrräder ausgeschildert! Als Sackgasse mit dem Zusatz eines kleinen Fahrrad-Icons. Ich bin fast ein wenig entäuscht. Unser „Schleichweg“ wird offiziell beschlichen. An seinem Ende steht eine dicke, rot-weiße Sperre, die über einen kleinen Hügel umfahren werden kann. Die Knicks neben mir lichten sich und vor mir tut sich Kropp und seine Kasernenbauten auf.  


Vater, Sohn und Luftpumpe
Der Trail ist nicht ganz so zickig wie der von Vorhin. „Landschaftlich total schön“, so tönt mir noch Mattis Beschreibung im Kopf, aber ich frage mich, wie ich das bemerken soll. Bin ich doch voll und ganz mit meiner Konzentration bei den Steinen und Wurzeln vor mir, den Anliegern und den Holzbrückchen, die mir in schwindelerregender Höhe über schlimme Abgründe hinweghelfen sollen. „Nur nicht zu lange nachdenken, und immer schön in der Spur bleiben“, so spreche ich mit mir selber, und das hilft auch. Tatsächlich weiß ich die schlimmsten technischen Defizite mit meinen Beinmuskeln auszugleichen. Wie eine eine gespannte Feder klammere ich mich in mein Enduro hinein, möchte mit ihm verschmelzen. Dann kommt das, wovor uns Matti noch vorher gewarnt hat: Unvorhergesehene Dinge, die einen ziemlich überraschen! Ein Loch klafft plötzlich vor mir auf. Ein Loch, in dem das schwarze Wasser steht. Ich auf einem rutschigen Fels, muss in das Loch hinein, so scheint es mir, der Fels will es ja auch so. Mit aller mir verfügbaren Kraft reiße ich am Lenker, wärend Das Loch mich umarmen will und tatsächlich- das Vorderrad kippt nach oben und ich sause hinterher. Das war nur der Bruchteil einer Sekunde, wie es so schön heißt, aber ich bin jetzt tatsächlich ein bisschen stolz, daß ich dem dunklen, schlammigen Loch entkommen bin. Ich schaue zu Matti und ärgere mich, daß ich nicht so leicht über diese dummen Hindernisse hinüberspringen kann wie er, sonder Angst vor schlammigen, schwarzen Löchern habe. Nach ein paar mehr waghalsigen Serpentinen, Wurzeln und Schlamm führt uns der Weg auf einen Forstweg. Hier kann man nun endlich mal durchatmen, und muss sich nicht mehr so schlimm konzentrieren. Bei einem Vater, der seinem armen Sohn gerade fluchend am Wegesrand einen Platten flickt, heizen wir durch eine tiefe Pfütze, daß es spritzt. Matti schwämt von tollen Mountainbike-Bildern, die durch Pfützenspritzen entstanden sind, und wir beschließen auch so welche zu machen. Spritzbilder. Erst bin ich an der Reihe. Nochmal hochfahren, dann mit Karacho durch den See und hoffen, daß Matti im rechten Augenblick abgedrückt hat. Danach ist dann Matti dran. Der fluchende Vater pumpt derweil mit einer lächerlich kurzen Luftpumpe den Reifen seines Sohnes auf. Auf seine Nachfrage gestehen wir ihm: wir haben leider auch nur eine lächerlich kurze Luftpumpe dabei. Mir tut der Kurze leid. Das Vaterfahrrad ist sowohl hinten als auch vorn gefedert und Sohnemann muss sich mit einem Hardtail zufrieden geben. Ich zwinkere ihm freundlich zu, und er lächelt zurück. Wenn er wüsste, daß ich gar kein cooler Oldscool-Biker bin, so wie er nämlich wahrscheinlich nach meinem Bart, der Kleidung und dem Verschutzungsgrad meiner Billabong-Hose annimmt, sondern ein blutiger Anfänger, er hätte mich wahrscheinlich angespuckt.  


Tropfen
Kropp ist wie sein Name. Es weiß nicht, was es sein will. Dorf? Oder was? Vielleicht passt auf diese Ansammlung von unglaublich langweiligen Einfamilienhäusern tatsächlich nur der Begriff „Ort“. Hier wird man kein einziges reetdachbedeckte Haus mehr finden, selbst das wäre den Kroppern wohl zu libertär. Aber vielleicht bin zu ungnädig mit Kropp - es gibt hier doch sogar eine Irrenanstalt! Und einen Dorfplatz, auf dessen Mitte eine Pommesbude steht, die hervorragende Grillhünchen verkauft. Mein Blick geht sehnsüchtig zu ihr hin. Vor Urzeiten, als ich mich noch als einen jungen Mann und Musiker bezeichnet habe, saß ich dort mal mit meiner Band und wir haben gemeinsam Fleisch gegessen. Jetzt kaufe ich mir, als fast alter, schwitzender Mann an der Tanke gegenüber nur eine Flasche Wasser. Vor der Kasse muss ich warten und schaue auf mehrere Männerrücken vor mir. Ich tropfe und kann nichts dagegen tun. Denn in dem Verkaufsraum der Tankstelle herrscht ein Bullenhitze und mein Kreislauf war gerade eben noch auf hundertdreißig Herzschläge in der Minute eingestellt. Angewidert schielen mich die Bauern an, angwidert weiche ich ihren Blicken aus. Ein Fahrradfahrer. Als ich endlich dran komme, will ich die alte, leere Flasche gegen Pfand eintauschen und werde von dem Verkäufertypen angewiesen den Automaten zu benutzen. Der steht auf der anderen Seite des Raumes und ich tropfe ihm meine Flasche ins geöffnete Maul, tropfe dann zur Kasse zurück und platsche ein Zettelchen auf die Theke, krame Kleingeld aus dem Sportrucksack, und ziehe dann endlich mit einem neuen Liter Sprudel von Dannen. Ich hasse die Zivilisation.  


Brettljause
Die freundlich riechende Hacklbergalm kreuzt unseren Weg und wir haben einen riesen Hunger. Und auch Durst. An einem der groben Tische auf der Veranda mit dem gigantischen Ausblick machen wir es uns gemütlich, und während ich mich darüber wundere, daß die beiden überzeugten Weißbiertrinker Matti und Flo sich ebenso wie ich ans Radler halten, verschlinge ich einen Berg zähen Schinken und Käse mit Brot. Eigentlich hab ich das nur wegen dem Namen bestellt. Mir war eben nach „Brettljause“. Klingt für meine norddeutschen Ohren eher nach einer ausgelassenen Party, als nach einem Berg Brot mit rohem Fleisch. Der besoffene Gastwirt ermahnt mich breit grinsend in seinem Kauderwelsch, daß ich Alles aufessen soll, ich grinse schmatzend zurück. Die meisten die hier sitzen, sind fitte Wanderrentner. Bergerprobt und abgeklärt schauen die Alten auf uns junges Gemüse. Man lächelt sich zu, und freut sich irgendwie, daß es hier so schön ist. Ich glaube, die Heimatfilme hatten irgendwie ein bisschen Recht. Eine Jugendgruppe kullert den Berg auf Hardtails hinunter. Mindestens dreißig Leute sammeln sich um einen Mann, der nicht unbedingt nach einem Bergführer aussieht. Wir wundern uns darüber, daß die Jugendlichen weder mit Protektoren bekleidet sind, noch besonders gute Mountainbikes haben. Vor Angst, sie könnten vor uns auf den Trail fahren, beeilen wir uns bei dem grinsenden Wirt zu zahlen. Wie immer ist es wieder Matti, der als erster den Berg hinunterstürzt. Der Trail ist wieder saukompliziert und macht mir Mühe. Obwohl mein Magen den Berg Käsefleisch verdauen will, muss er mit. Matti und Flo kann ich schon wieder nicht sehen. Irgendwie spüre ich, daß meine Aufmerksamkeit mitsamt meiner Kraft schwindet und ich will vorsichtig sein. Doch auch das ist garnicht so einfach, denn gewisse Teile des Trails erfordern eine Geschwindigkeit, auf die ich gerade keine Lust habe. Trotzem, oder vielleicht gerade deswegen rutsche ich unvermittelt auf einer riesigen Wurzel aus, die sich mir in den Weg schiebt. Dieses Mal bleibe ich mit dem Rad zusammen auf der Wiese liegen. Schnell rappel ich mich aber wieder auf und fahre den beiden Anderen hinterher. Ich erwische sie hinter einem recht hohen Hügel, den ich wie alle Hügel mit nach hinten gestrecktem Arsch und halb angewinkelten Beinen fahre. Außer Atem will ich ihnen von meinem lezten Sturz berichten, da bemerke ich, daß Flo schwer atmend am Abhang sitzt, beide Beine von sich gestreckt, und Matti auf ihn einredet. Flo ist auch gestürzt. Bei dem Versuch eines Sprunges ist er neben dem Weg gelandet und hat sich ein paar mal mit dem Rad überschlagen. Sein Lenker hat sich dabei in seinen Oberschenkel gebohrt. Er will uns zeigen wo der Schmerz ist, zieht sein rechtes Hosenbein hoch und wir sehen sie: Eine knallrote Beule, in der Mitte kalkweiß. Groß wie ein Handball.  


Du büs Kropperbusch no ni vörbi
Das Schönste an dieser Landschaft hier ist eigentlich der Wald. „Du büs Kropperbusch no ni vörbi“, so prangt das Schild an dem Gasthof kurz vor dem Wald, in dem irgendwann mal die Räuber gehaust haben sollen. Die Händler, die einst über den „Ochsenweg“ kamen, eine vielbereiste Handelsstraße des Mittelalters, erschraken sich wohl zu Tode, wenn sie diesen Kampfruf hören mussten. Den ehemals riesigen Wald hatten sie fast durchquert, als man ihnen hier nach dem Leben trachtete. Die Räuber hätten allerdings heutztage wohl eher Probleme Schutz im Schatten des Waldes zu finden, denn der „Kropperbusch“ ist leider nach den letzten Herbststürmen ziemlich zusammengefegt worden. Wie Strohhalme sind hier die großen Nadelbäume umgeknickt worden. „Ein Bild des Trauers“ denke ich und wundere mich über das Ausmaß der Zerstörung. Und auch über meine Geschwindigkeit. Ein seltenes Glück: Rückenwind! Der Weg von Kropp nach Rendsburg stellt mich günstig. Dazu fahre ich auf einem frischen Fahrradweg, der so neu ist, daß er wie für mich gebaut aussieht. Später auf meinem Navi sehe ich, daß ich hier die 35 Km/H – Grenze überschritten habe. Ich fliege durch die Bäume. Nicht schlecht für nur einen Gang. Meine Beine fliegen wie die Nadel einer Nähmaschine. In meinen Augenwinkeln sehe ich bei Tetenhusen das „Haus mit Herz“. Tatsächlich existiert dieser Puff schon seit mindestens fünfunddreißig Jahren hier mitten in der Norddeutschen Geestlandschaft. Meine Mutter hat immer etwas süffisant gegrinst, wenn wir Kinder begeistert auf das leuchtende Herz auf dem Dach des alten Bauernhauses deuteten. Für uns stand das Herz irgendwie für eine spleenige Idee des Hausbesitzers. Ein Freund der Liebe vielleicht? Oder Hippies, die durch dieses Zeichen ihre Botschaft der Liebe mit der Welt teilen wollten? Ich fühle mich konditioniert, denn ich merke, daß dieses rote Icon bei mir immer noch funktioniert: Ich freue mich. Vielleicht auch nur darüber, daß ich nun gleich zu Hause bin.


Plastikkrieger
Zum Glück ist es nicht mehr weit bis zur Bodenstation. Nachdem sich Flo von einem heftigen Schwindelanfall erholt hat, nimmt er sich sein Fahrrad und humpelt in Richtung Häuser. Ich muss an den Unfall von vorhin denken, den Schlüsselbeinbruch. So schlimm hat’s Flo zum Glück nicht erwischt. Die letzten paar hundert Meter des Trails machen Matti und mir jetzt keinen rechten Spaß mehr. Unten überlegen wir uns, was zu tun ist. Der örtliche Spar-Markt wird nach Trinkbarem durchsucht, und wir telefonieren mit meinem Weib und Sohn. Wir werden die beiden auf der Panoramaalm treffen. Die bange Frage, ob Flo das wohl schaffen wird, kommentiert er mit wortlosem Gehumpel zu seinem abgestellten Fahrrad. Aber vorher muss er uns nochmal die Beule zeigen. Sie ist größer, röter geworden und zieht sich nun über den kompletten Oberschenkel. Ich will ihn überzeugen im Tal zu bleiben, aber davon will er nichts wissen. Also nochmal die Straße im Tal, zurück zur anderen Gondelstation gefahren. Ich erzähle Flo, daß er am besten in Bewegung bleibt, dann würde die Schwellung nicht so mächtig, was sich später leider als falsch erweist. Er tritt mit nur einem Bein in die Pedale, und ich frage mich, wie er so noch einen Trail fahren will. Die Gondelstation ist wie leergefegt. Wo heute Morgen noch mindestens hundert Biker standen, sind wir jetzt die einzigen. Die Nachmittagssonne scheint freundlich auf uns herab, als wir meine Familie treffen. Mein Sohn macht Augen: Sein Vater ein Plastikkrieger. Von Respekt aber keine Spur, er will unbedingt meine Beinprotektoren anlegen. Wärend wir Kaffe und Kuchen auf der Panoramaalm bekommen und unsere Erlebnisse des Tages austauschen, zerrt er vergeblich an den durchgeschwitzen Dingern herum und ist entäuscht, daß sie ihm nicht passen wollen.  


Dusche
Die B77 ist eigentlich objektiv betrachtet eine recht schöne Straße. Wenn sie nur keine Straße wäre. Oder anders gesagt: Von der B77 kann man so einige hübsche Ausblicke genießen. Dort, bei Sorgwohld zum Beispiel, wo sich das kleine Flüsschen Sorge durch den Wald schlängelt, da würde ich gerne mal eine Pause machen. Leider fahren auf der B77 ziemlich viele Autos. Die würden dummerweise das schöne Bild zerstören. Deshalb eile ich weiter. Die Schleswiger Chaussee beginnt hinter zwei große Abfahrten und einem Kreisverkehr. Vorbei an diesen fiesen Verkaufsmärkten wo meine Eltern immer hinfahren um Unterhosen und Käse zu kaufen, vorbei an der alten Kaserne, deren Niedergang auch Rendsburgs Niedergang war, da hier vor knapp zehn Jahren plötzlich ein Haufen solvente Soldaten wegzogen, vorbei auch an dem zweiten Puff meiner Tour, sieht heruntergekommener aus als der erste, vorbei an dem Autohaus meines ehemaligen Klassenkumpels Hauke, den sie vor fünf Jahren wegen unlauterer Geschäftspraktiken am Wickel hatten und der nun kein Geschäftsführer mehr sein darf (ich frage mich, ob er wohl jetzt Rad fährt), vorbei auch an dem Friedhof, auf dem Familienangehörige begraben wurden und schlußendlich der grüne Kranz, eine vierspurige Straße, die meinen Weg quert. Ich bleibe an der Ampel stehen. Das war der Sprint. Ab hier gondel ich selbstvergessen in die Siedlung meiner Eltern. Der Vorgarten meiner Mutter explodiert vor Blumen und zaubert mir ein Grinsen ins Gesicht. Meine Mutter will nicht glauben, daß ich die knapp siebzig Kilometer in zweieinhalb Stunden abgerissen habe. Zufrieden stelle ich mich unter die Dusche. Sie macht mir die Kartoffeln vom Mittag warm.  


Nackt
Den Rückweg fahren mein Sohn und Weib mit der Gondel. Wir mit dem Fahrrad. Eigentlich wollen wir ja noch zur Spielbergalm und den Tag mit einem Bier beschließen, aber an einem Metallrost, der über einem Gebirgsbach gelegt ist, platzt unvermittelt Mattis Vorderreifen. Er schickt uns weiter, wir würden uns später auf der Alm treffen. Doch auch das scheint uns verwehrt. Einen Kilometer weiter ist der Forstweg zur Alm gesperrt, und wir fahren weiter ins Tal. Dort treffen wir später einen verärgerten Matti. Der Tag ist nicht so zu Ende gegangen, wie wir uns das vorgestellt hatten. Wir säubern unsere Räder mitten auf einem Platz im Dorf mit einer kräftigen Wasserspritze, um die sich nun die Biker mit ihren Schätzen versammeln. Irgendwie sehen hier jetzt alle müde und abgekämpft aus, garnicht mehr so heldenhaft wie vorhin. Ich fühle mich plötzlich zugehörig. Zwischen den bunten Gestalten an der Wasserspritze entsteht sowas wie ein stilles Einvernehmen. All die Zeichen auf den Körpern haben jetzt ihre oberflächliche Bedeutung verloren und endlich scheinen alle ihre Bestimmung erreicht zu haben. Als ich das knallgrüne KTM wieder zurück in den Bikeshop bringe, von dem ich es ausgeliehen hatte, berichte ich dem desinteressierten Händler von unserem kleinen Trip. Und während ich seine gelangweilten Nachfragen artig beantworte, halte ich den Lenker mit meinen Händen nochmal fest, ziehe an den Handbremsen und drehe mit meinem Fuß spielerisch an der Pedale. Es gibt mir einen kleinen Stich, wie es dort neben den anderen, baugleichen zum Abschied vor sich hin tropft. Draußen dann, zu Fuß, fühle ich mich weich und unerträglich nackt.

Aufguss

Die letzten Sonnenstrahlen. Durch Baumwipfel. Wo ist die Entspannung, wenn das Spannende gewollt wird? Es zieht einen hin zu den Menschen. Zu nackten Leibern und Regeln, die nichts weiter sind als der Wille zu normaler nonverbaler Kommunikation, zu einem würdigen Ablauf des eigenen Daseins. "Guten Tag, hätten Sie bitte ein Bier für mich?" So schießt es aus meinem viel zu verspannten Kopf. Ich kann es wohl fühlen. Das Harte, Versteinerte in meinem Nacken.
Nirgends haben die Leute mehr einen eigenen Charakter als dort, wo sie nackt sein können, ohne übereinander herzufallen.
Nach längerem Hin- und Her ("nein, kein Kölsch. Nein, auch kein Weizen!") wird serviert. Meine Bewunderung für nicht viel mehr als für den Mut zum Selbstverständnis, mit dem Bäuche, große, mächtige Bäuche, und Brüste, lange schon jenseits einer Altersgrenze, präsentiert werden. Es ist das Laissez Faire der Egalheit, die nirgends so gut gedeit wie in diesem Garten von Regelwerken. Wo der Bademantel hingehangen, wie das Saunatuch ausgebreitet und wann die Tür geschlossen wird. Hier setzen sich keine Mädchen zu dir in den Whirlpool, hier werden Zigaretten geraucht.
Die mutwillig zu Dekorationszwecken zerschlagenen, römisch anmutenden Amphoren auf dem solcherart ungenutzten, sehr breiten Platz des Saunaaußenbereiches überdecken das deutsche Heimatgefühl nur spärlich. Ein deutliches Zeichen für gehobenes Proletariertum, so wie nie sich ein Sozialist es erträumt hätte, aber immer selbst war: ein nackter Deutscher.

Zwergenwiese

Das Geklapper von Spinttüren. Pfeifende Männer und Wassergeplätscher.
Stimme 1: „Hey, schon lange nicht mehr gesehen!“
Stimme 2: „Ja. War lange weg.“
Stimme 1: „Ich auch! Zwei Monate nicht Köln. Beruflich.“
Stimme 2: „Diese neue geile Sache gefunden- eine Kollegin ist da schon voll lang und so... Die hat mir den Gutschein gegeben. Voll der geile Kurs. „Bodypump“, oder so. Aber jetzt wieder hier. Erste Trainingseinheit heute.“
Stimme 1: „Ah ja, cool. Ich war auch in der Schweiz. Klettern. Zwei Wochen.“
Stimme 2: „Jetzt voll Hunger. Muss gleich erstmal spachteln.“
Stimme 1: „Aber aufpassen! Weißt schon!“
[macht wahrscheinlich eine Geste, die ich von meiner Position aus nicht sehen kann]
Stimme 2: „Ja klar. Hab jetzt voll den geilen Laden gefunden. Gegenüber da vom REWE. Super Biofleisch und so...“
Stimme 1: „Ja, Basic. Kauf ich auch. Wenn Du auf Marmelade stehst, musst du mal ... haben die beste! Von Zwergenwiese. Ist die beste. Echt jetzt!“
Stimme 2: „Muss jetzt los, hab noch was vor...“
Stimme 1: „Ja klar, ich auch- bis später, Peter!"
[lachen]
Stimme 1: „Tschüß dann!“
Stimme2: „Tschöhö!“

Frechen

Ich frage mich, was das wohl alles für ein Gestrüpp ist. Ich würde gern die lateinischen Namen der einzelnen Pflanzen wissen, die sich auf diesem Stück Wiese so vordergründig chaotisch ausbreiten. Ich stehe auf dem Weg von Köln nach Frechen. Eine Gegend, in der es nicht mehr gibt als angedachtes Industriegebiet. Lagerhallen sind es eventuell, oder Lastkraftwagengaragen, die hier geplant werden. Vielleicht. Glasscherben kreuzen meinen Weg, Geröll und zurückgelassene Reste von Straßenbaumaterial.
Ich erhasche die ungläubigen Blicke aus den vorbeisausenden Autos. Es scheint ein merkwürdiges Bild zu sein, wie ich hier mit meinem Fahrrad stehe. Man erwartet in dieser unwirklichen Gegend keine Menschen. Die Natur scheint hier, zwischen all dem Asphalt und Teer, endlich mal in Ruhe gelassen worden zu sein. Dort, wo am meisten Begradigung und rücksichtsloser Straßenbau geschah, ist hemmungslosester Wildwuchs entstanden. Allein, ich bin nun mal ein Stadtmensch und habe mich auch in meiner Schulvergangenheit kaum für Fauna interessiert. Ich würde sonst jetzt vielleicht begeistert von meinem Fahrrad herab steigen und mit einer Schere bewaffnet einige unscheinbar aussehende Pflanzen von ihren Wurzeln abtrennen, um sie später zu Hause in Bündeln über dem Herd aufzuhängen. Ich hätte zu jeder erdenklichen Krankheit ein Kraut zur Hand und würde sagen: „dieses eine Kraut, das für Dich, lieber Patient, so aussieht wie ein Scheißdreck, wird Dich, lieber Patient, von deinen Leiden erlösen!“ Man würde mich für meine Heilkunst lieben! Und man würde fragen, aus welch entlegenem Winkel der Welt ich diese kostbare Heilpflanze entwendet hätte. Ich aber würde nur denken: "Frechen. Mein Geheimnis!"
Das ist aber bloß ein Wunschtraum, den ich während eines Bruchteils der Sekunde habe, in der ich versuche, den Namen der vierspurigen Straße zu erkennen, der auf ein Schild aufgedruckt worden ist. Straßenschilder sind in solchen Gegenden eher unerwünscht. Hier werden größere Schilder aufgestellt. Die geschwinden Blicke aus den Windschutzscheiben der Transportunternehmen dieser Welt verlangen große Buchstaben. Und mit ihnen werden Städtenamen gebildet. Keine Straßennamen. Überhaupt ist hier alles groß. Und die Wege weit. Man fühlt sich auf eine Art verloren und frei zwischen Wegweisern und Gestrüpp. Gleich der Natur, die sich ihren Weg durch den Beton bahnt, unbeaufsichtigt durch richtende Hände, in diesem Raum zwischen den Städten, der so existieren muss, damit sich die Zivilisation an anderer Stelle komprimieren kann. Von hier aus erscheint sie ungenau und trügerisch, die Gesellschaft. Dort, wo Menschen auf engerem Raum leben müssen, werden sie sich immer eine Art Traumwelt basteln, in der sie sich selbst belügen können. Wer soll es ihnen auch verdenken?! Die unerträgliche Nähe zu Anderen macht ja jeden irgendwann krank. Das Reale hat aber hier sein Zuhause, zwischen Frechen und Köln, fern der engen Straßen, in denen die Menschen hausen.
Ich blinzele das seltene Straßenschild an, kann aber nichts darauf entziffern. Deshalb weiß ich auch nicht, ob ich überhaupt noch auf dem richtigen Weg bin. Aber ich sehe bereits in der Ferne den nächsten McDonalds. Ich schwinge mich auf mein Fahrrad und strenge mich an. Wär doch gelacht.

Epidemie

„Da ist etwas mit dem Regen herunter gekommen.“ Mein Freund D. sagt das mit einem Stirnrunzeln, den Blick gen Himmel gewandt, als wenn von dort noch mehr zu erwarten wäre als der Bindfadenregen, der nun schon seit Stunden die Stadt verfinstert. Meine Halsschmerzen sind allerdings schon fast verschwunden, als ich einen Tag später in zaghaftem Sonnenlicht den Kinderwagen die Flaniermeile der Konsumwilligen entlangschiebe, mich darüber wundernd, wie viele Menschen an einem Sonntag vor den Geschäften stehenbleiben, um sich über die Auslagen zu beugen. Wenn Sie an den anderen Tagen kaufen müssen, haben sie zumindest einen Tag, um das Gekaufte zur Schau stellen zu können. Das stellt ein extrem befreiendes Gefühl an diesem sonnigen Sonntag her.
Am kürzlich installierten Bungee- Trampolin auf dem Rudolfplatz mache ich halt. Kinder interessieren meinen Sohn meistens, er ist ja selbst fast schon eins. Eine Familie umringt strahlend eines der Spielzeuge. Der vielleicht achtjährige Sohn baumelt stur auf und ab, sein Vater zieht grinsend an den Seilen, als wenn er dadurch den Spass seines Sprößlings vergrößern würde. Die Wahrheit aber ist, er weiß nicht, was er sonst tun soll. Mutti hat Tochter in der Babytrage vor ihren Bauch gehangen. Die scheint noch zu klein für das Schaukelhüpfen, allein, die Babytrage passt rein ästhetisch hervorragend zu Mamas Kleid! Auch sonst ist die Vorzeigefamilie sehr gut angezogen. Ich sehe Coco Chanel an Mama, ich sehe Petit Bateau und G-Star an Tochter und Sohn, ich sehe Polo an Papa und ertappe mich selbst dabei, wie ich mich für meine Wahrnehmung hasse. Mein Starren bleibt jedoch seitens der Gutgekleideten nicht unbemerkt. Das Kleid dreht plötzlich seinen Blick zu mir und bleibt mit größtmöglicher Verachtung an unserem Kinderwagen hängen, der hin und wieder auch als Fahrradanhänger dient und aus solcher Funktion heraus gerade naturgemäß ziemlich mit Dreck bespritzt ist.

Ich wende mich brüsk ab von der lebenden Hamburg- Mannheimer- Werbung und schiebe schon deshalb weiter, weil sich mein eigenes Kind kaum für das bunte Treiben interessiert. Eine Straße weiter kehre ich ganz um. Ich will in den Park. Der erscheint mir doch Kinderwagenkompatibler als der enge Bürgersteig, auf dem man ständig Pärchen und staunenden Touristen ausweichen muss. An drei männlichen Gestalten vor mir komme ich nun aber garnicht erst vorbei. Die Drei sind in ein Gespräch vertieft, das offensichtlich den gestrigen Ausgang der Gay Games, die gerade in Köln statt fanden, zum Inhalt hat. Ich tippe auf Läufer. Zwischen kurzen, engen Hosen und Laufschuhen entspannen sich sensationell muskulösen Beine. Und dann passiert der Faux Pas: Ich ramme einem der Typen vor mir den Kinderwagen in die Athletenwaden! Ich war wohl einen Moment unaufmerksam! Gleich den Sonntagspassanten um mich herum, war auch mein Blick in die Auslagen eines hiesigen Hutverkäufers gerichtet, so daß ich den geringen Abstand zwischen Kinderwagenspitze und nacktem Bein nicht bemerkt habe! Ich entschuldige mich auf die allerfreundlichste Art, die mir in diesem Moment einfällt, und zu meiner Verwunderung lächelt mir der so Beschädigte direkt in die schuldbewußten Augen und entschuldigt sich seinerseits! Als wenn er, an dem nun knapp über seinem Schuh eine rötliche Stelle abgeschabter Haut leuchtet, verantwortlich zu machen wäre für unseren unglücklichen Zusammenstoß. Glücklich vereint mit Welt, Kosmos und Gay Games setzen wir unseren Weg weiter fort, als uns just in diesem Moment die Familie von Vorhin entgegen stolziert. Vater links, den Sohn an der Hand, Mutter rechts, das Prinzesschen vor sich her tragend, den Rücken emporgereckt und den Blick abschätzig in die Menge der Entgegenkommenden gerichtet. Wie ich diese Erscheinung hasse! Am liebsten möchte ich die Straßenseite wechseln. Doch dafür ist nun keine Zeit mehr. Schon deshalb, weil ich meines Sohnes Fahrradanhänger schiebend, dem verschmutzten, gleichsam eingekeilt bin zwischen schwulen Laufathleten und bummelnden Schaufensterkuckern. Doch meine Angst, der schreckliche Blick der Bessergestellten würde wieder auf mich und meine erbärmliche Kindertransportausrüstung fallen wird in jähe Schadenfreude verkehrt, als einer der vor mir ins Gespräch vertieften Sportler den arrogant schweifenden Blick der Mutter und Kleidträgerin mit seiner Schulter zum erliegen bringt. Wie unbemerkt rammt mein Held seinen trainierten Bizeps in die Seite der Frau, die augenblicklich wie aus einem fernen Traum erwachend in sich zusammensinkt und den Weg frei gebend stehenbleibt. Nicht ohne mit ihrem verständnislosen Blick ihren Peiniger zu verfolgen, der aber mit keiner Miene auf das gerade Geschehene einzugehen bereit wäre, ja, er hat es wahrscheinlich noch nicht einmal bemerkt. Meine Schadenfreude weicht, als ich nun nah genug an der Geschädigten vorbei gehe, um die Falten an ihren Augen zu sehen, die mir sagen, daß sie doch viel zu lang auf Kinder und Chanel hat warten müssen.

Schlafen gehen

Die Lautlosigkeit der Nächte wiegt schwer. Die Wohnung ist angefüllt mit Blei. In jeder einzelnen Ritze des dunkelgelb schimmernden Parketts lauert eine Stummheit, der ich mich nicht entziehen kann. Ich forsche in mir nach einem Drang, einen Laut zu machen. Aber das Kribbeln in der rechten Hand untersagt mir jegliches Tun. Die Schallplatten, die ungeordnet vor mir stehen, alle brandneu und ungehört, möchten mich an etwas erinnern, an das ich heute kaum einen Gedanken zu verschwenden bereit bin. Warum gibt es in dieser Wohnung keine Lichtschalter, die über Blicke oder Gedanken zu betätigen sind? Die Dunkelheit ist gefährlich- könnte ich doch gegen einen Stuhl stoßen, oder mit einer zwar sachte aber unbedacht ausgeführten Handbewegung ein Glas vom Tisch fegen. Ich kleckere ja ungern, aber oft. Und es gelingt mir nicht immer mich ruhig zu verhalten. Das würde ein schönes Tohuwabohu geben! Man müsste auch Tücher und Putzmaterial dazu holen, wenn es passieren würde. Ganz zu schweigen von den Scherben, die scharfkantig auf ein Stück meiner Haut warten würden. Sie zu entsorgen wäre die lauteste Arbeit. Einem Butotänzer gleich, bewege ich meinen Körper schwebend in Richtung des Bettes. Ich hoffe, der Schlaf wird es richten.

Das Dröhnen.

Natürlich könnte man das Alles loben bis ins Unermessliche: Die großen Momente des Lebens, die sich im Verborgenen abspielen und bei Brigitte Kronauer veredelt lesen lassen, da ihre Sprache so leichtfüssig wie elegant Trost spendet und die Charaktere ihrer Erzählungen so nah werden, weil ihnen die eigene Wahrnehmung als Thema für uns so wichtig sind, als dass sie es sich nicht nehmen lassen, sie mit uns zu teilen. Wer die eigene Wahrnehmung so gespiegelt liest, der beobachtet aber das eigene Beobachten und wird so ein besserer Mensch. Das ist ja ganz klar. Aber das Alles ist in anderen Büchern von Kronauer teilweise viel besser durchgespielt worden. Hier ist es tatsächlich die Freude am Hass, die Erkenntnis, dass Trauer und Bitterniss eventuell die treibendsten Kräfte im Leben sind. Wenn das jemand wie Brigitte Kronauer erwägt, dann entsteht ein Kunstwerk, was Tonnen schwerer wiegt als jede Death Metal- Platte, oder jedes Dronegedröhn. Brigitte Kronauer ist nach wie vor die wichtigste deutschsprachige Schriftstellerin. Lies- und werde ein besserer Mensch.

Ein Experiment

Man hätte meinen können, der Frühling wäre ausgebrochen. Der Schnee war nur noch eine leise Ahnung der letzten Monate und die Menschen der Stadt hatten nichts besseres zu tun, als sich flanierend in den sonnenbeschienenen Parks gegenseitig zu bestaunen. Die Jogger meinten vielleicht, sie würden auf eine Art wertvoller sein, mit ihren in Funktionskleidung gehüllten Leibern, die sie sich insgeheim als makelloses Beispiel eines glatt dahingleitenden Lebens erträumten. Ihre hocherhobenen Köpfe schienen sich über die der Spaziergänger erheben zu wollen, ja, wenn jemand aus grösserer Entfernung das Treiben beobachten konnte, dann musste es ihm so erscheinen, als wenn ihre Häupter sich in Sekundenbruchteilen über die der Anderen erheben wollten, so wippten sie mit ihrer Gesundheit auf und ab. Die Bewegungslosen im Park, die Biertrinker und Liebespaare, die Banksitzer und Eltern, mürrisch auf ihre spielenden Kinder wartend, sie waren die, die das Bild als ein eigentlich stilles festhalten wollten. Ihre Bewegungslosigkeit gegen die aufgeplustert aktive Gesellschaft, gegen die sie sich in diesem Moment entschieden hatten.
Einer von Ihnen war der alte Honkong- Chinese. Auch er stand still. Das Merkwürdige war, dass er sich sogar mitten auf dem breiten Schotterweg hingestellt hatte, der sich neben dem lächerlich quadratisch einbetonierten Wasser befand, auf dem drei Paar Schwäne von den vorbeigleitenden Augen der Menschen bewundert ihre Kreise drehten. Seine Blicke zuckten wild hin und her. Das lag daran, dass er alle Aktivität seines Körpers auf die Augen gelegt hatte. Die Muskeln an den Augäpfeln waren trainiert und ausdauernd, er konnte stundenlang da stehen und seine blitzschnellen Blicke in alle Richtungen abfeuern. Alles an ihm war angespannt und in höchster Alarmbereitschaft. Musste der Standort doch verteidigt werden. Seine Kappe war wie von einer anderen Hand als der seinen auf den Kopf gelegt worden, als wenn ihn jemand mit einer Statue verwechselt, und sich so einen Scherz an ihm erlaubt hätte. Vielleicht war es auch nur sein Trick, um sich die Menschenmassen so vom Leib zu halten, denn man dachte, dass durch einen Stoß die Kappe bestimmt heruntergepurzelt wäre, und aus irgendeinem merkwürdigen Grund wollte das keiner der Flaneure riskieren. Alle machten einen großen Bogen um das stille Männchen.
Er beobachtete Jedes Gesicht, dass an ihm vorbei glitt. Und nicht nur das: er beobachtete auch die Gesichter der Stehenden. Und er prägte sich jedes Gesicht ein, zwar nur sehr kurze Zeit, aber immerhin so, dass er sich später an jedes Gesicht erinnern konnte, das ihm an diesem Tag begegnet war. Das war eine Arbeit! Die hohe Konzentration auf sein Geschäft ließ ihn alles Andere um sich herum vergessen. Seinen Blicken entging nichts, nicht der Schweißtropfen des Joggers, der von dessen Nase auf den feucht glitzernden Weg fiel, nicht der richtungslose Griff des Säuglings in dem Kinderwagen nach einem im Sonnenlicht reflektierenden Staubkorn und auch nicht der unsichere Blick des jungen Mannes, der eine ähnliche Kappe wie er trug, zwar von neuerem Fabrikat, allerdings genau so wie die seine nur lose auf den Hinterkopf gelegt.
Doch die Wahrheit ist, dass er garnicht wusste, dass er den Spaziergängern den Weg verstellte. Seine Konzentration galt nämlich einem Experiment: „Je schneller ich mich bewege, umso mehr halte ich die Zeit an“, so dachte er. Und da das Schnellste an ihm seine Blicke und sein Gedächtnis waren, hatte er sich diese als Instrument genommen, um zu sehen, wie es wäre, die Zeit anzuhalten. Vielleicht war er auch nur sehr einsam, das hätte man nicht mit größerer Sicherheit sagen können, aber am Abend dieses ersten Frühlingstages fühlten die Menschen, die sich ein paar der Sonnenstrahlen im Park gegönnt hatten, eine besondere Form von Glück: Sie waren heute nicht älter geworden.

Lullaby no.6

hey my little johnnyboy
aren't you a cute johnnyboy
hey my little johnnyboy
aren't you a cute boy

with your small hands
and your small feet
you can't walk away
so you have to weep

(reprise)

eine lunge ohne zähne

sie waren es: die apokalyptischen reiter! ihre widerlichen gesichter blähten sich im wind auf und stülpten sich über sich selbst, so dass man sah, welche ekelhaften innereien sie in sich trugen. und nein, es waren nicht drei, wie man gemeinhin immer annahm, es waren ihrer tausende! sie gallopierten direkt auf ihn zu und schlugen ihm ihren faulen atem in sein gesicht!
er aber, der held dieses jahrtausends, er allein bot ihnen die stirn und brüllte so laut und ausdauernd er konnte in ihr faule phalanx. und nach stunden der anstrengung hatte er es geschafft: sie entflohen tatsächlich vor der kraft seiner lungen und er konnte sich endlich, ermattet ob seinem eigenen anstrengenden geschrei, dem schlafe hingeben.
und wir dankten zu gott dem allmächtigen, dass die magenzäpfchen und die bauchmassage geholfen hatten, seine blähungen in goldgelben sprudel zu verflüchtigen.

Akron/Family/Geburtsvorbereitung

Nachdem ich mit meiner Frau zusammen während unserem allwöchentlichen Geburtsvorbereitungskursus gezeigt bekommen hatte, wie man richtig atmet um Presswehen zu unterstützen, gingen wir mit Klaus und Birgit (Namen von der Redaktion geändert) noch eine Kleinigkeit essen und mussten uns ab diesem Zeitpunkt über Windelwickeltechniken, Kitaanmeldungen und die unglaublich langweiligen Berufe dieser unglaublich langweiligen Menschen unterhalten. So, dass wir uns heute ernsthaft überlegen nach "Eltern mit einem Leben" in den hiesigen Stadtzeitschriften zu inserieren, denn über kurz oder lang muss man sich ja mit den Anhängseln der lieben kleinen beschäftigen. Bestimmt. Das schlimme am Kinderkriegen ist nicht die Sache an sich, sondern die Leute, die sich wie ein Rattenschwanz an dieses Erlebnis mit einer gleichsam dumpfen Penetranz anfügen, die einen nicht nur mit garnicht immer so gut gemeinten Ratschlägen nerven, sondern das Kindkriegen und Elterndasein als gesellschaftsethisch zu begutachtende Tätigkeit einstufen.
Das richtige Verhalten diesbezüglich wird mit der stinkenden Vernunft einer sich selbst disziplinierten Oberlehrerattitüde vorausgesetzt, die das Häuschen im Grünen und einen selbstverständlich drogenlosen Alltag mitdenkt. Nicht nur die verstohlen- ungläubigen Seitenblicke Klaus und Birgits, als ich mir eine Zigarette anzündete, ich erinnere mich auch an ihre weit aufgerissenen, ungläubigen Augen, als ich ihnen beim Zahlen der Rechnung eröffnete, dass ich es eilig hätte, ich wolle noch zu einem Konzert. Offensichtlich waren sie geschockt, dass ich einerseits imstande war, meine schwangere Frau bei ihnen sitzen zu lassen, andererseits überhaupt auf Konzerte gehe ("Konzert? echt? Cool!"). Ich, gleichsam geschockt von der Existenz dieser Amöbenintelligenz, die sich nur auf das Thema Einkommen und Fortpflanzung zu konzentrieren vermag, wurde dann endlich nach meinem Abgang aus dem Café nach einem psychedelisch beflöteten Anfangsgeraschel im Studio 672, während dessen ich noch Zeit hatte einem Freund von dem traurigen Erlebnis zu berichten, plötzlich aus der Depression gerissen und von da ab ging es bergauf:

Selten habe ich so freie, dabei technisch so versiert spielende Künstler gesehen. Es war zu jeder Zeit des Konzertes spannend, was auf der Bühne passierte. Kein Thriller im Kino hat mich jemals so bannen können, wie diese Darbietung. Egal ob es ellenlange Southern-Rock-Soli waren, Black Sabbath- Bassläufe, gepaart mit Terry Rileyschem Synth-geblubber, unbarmherzig hart dahingeprügelt, am Ende aber aufgelöst in dreistimmigem Männerchor, Hippieweisheiten säuselnd und eine an Afro-Pop gemahnende Gitarre einleitend, die am Ende der Tour in minutenlanges Feedbackgepiepe münden sollte, das aber nicht einfach Feedback war, oh nein, es war eine Feedbacksymphonie, unterstützt mit Flöten, Pfeifen und Teremin, sich immer weiter entwickelnd und ausufernd, eine Pfeiforgie, deren Reiz darin lag, dass das Pfeifen sich - je nach Einsatz der Instrumente - mal wie eine Feuersirene, dann wieder wie das Singen eines Kindes anhörte, die Musiker waren stets hochkonzentriert auf ihre Instrumente, auf die Schwingungen in dem engen Kelleraum des Studio 672, aber immer so frei in ihrem Tun, dass sie Alles um sich herum benutzen würden um der Musik gegebenenfalls eine neue Komponente hinzuzufügen, egal ob sich eine herumstehende Wasserflasche oder ein gesampletes Pfeifen aus dem Publikum anbieten würde, um die Realität des Moments interessant zu halten. Die musikalische Freiheit, die von diesen leuten ausging, hatte schon fast etwas Beängstigendes. Begriffe von einer "Universalsprache" und ähnlichem Hippiegedöns schossen mir durch den Kopf, mein Grinsen tat mir irgendwann im Gesicht weh und die ungläubig- begeisterten Blicke meines Kumpels beantwortete ich mit einem gleichsam ungläubigen Schulterzucken. Nach ca eineinhalb Stunden kam die Zugabe vor ca sechzig Gästen, deren Begeisterung durch mehrere freundliche Gesten seitens der Band aufgefangen wurde. Am Ausgang unterhielt ich mich beim anschließenden Plattenkauf mit dem Tourbegleiter: Die Band kam wohl in Teilen aus New York (komischerweise war er sich allerdings nicht ganz sicher) und aus anderen Teilen der USA, er selber aus Prag. Also scheint es sich um eine Fernbeziehung zu handeln, was insofern erstaunlich ist, als daß ihre komplexe Musik nur extrem probenintensiv auf die Bühne zu bringen ist. Wie dem auch sei, dieses Happening wird mich in meinen Gedanken noch lange begleiten und ich werde meinem Sohn bestimmt davon erzählen.

Übertragungen

Nach dem Urlaub ist es immer schwer sich, in den heimischen Gefilden hart aufschlagend, zu einem glücklichen Menschen zu denken. Aber diesmal ist es irgendwie einfacher als sonst. Keine Ahnung woran das liegt. Vielleicht an der Güte des Urlaubs, vielleicht an der positiven privaten Situation, die mich bescheint wie warmer Sonnenschein nach einem Jahrhundert nasskalten Regens. Die S-bahn stinkt garnicht so schlimm und die Menschen darin scheinen auch nicht suizidgefährdet. Sehr schön! An der Haustür angekommen, ist der Schlüssel für selbige besonders leicht hinter dem äußeren Reißverschluss der eben noch als Handgepäck klassifizierten Tasche zu finden. Sehr gut! Im Hausflur dann macht sich aber Verwunderung breit: Zieht schon wieder einer aus? Haben doch erst in dem Monat, in dem wir abreisten, in drei Wohnungen die Mieter gewechselt! Missmutig dreinblickende Männer heben Kartons die Treppe hinunter und versperren uns den Weg. Unsere Koffer müssen erstmal warten!
Nachdem wir später unser Gepäck geleert haben und nichts Essbares mehr in unseren Schränken finden können, entscheide ich mich für einen Gang in den Supermarkt. Auf der Treppe begegne ich einem zerknirschten Menschen, den ich kenne: Zuletzt noch sah ich ihn in einer der neu bezogenen Wohnungen mir ein Bier reichen. Eine kleine Einweihungsparty, zu der alle Bewohner des Hauses eingeladen waren. Seine Freundin, eine gut verdienende Rechtsanwältin, die mir ungefragt ihre neuen Vorhänge im Schlafzimmer zeigte, die „dichtesten“, die sie finden konnte, schien die Kommunikativere von den Beiden. Auch unser Schlafzimmer geht in den Hof hinaus und hinter meinem verständnisvollen Lächeln verstand ich ihre ausufernde Beschreibung als dezenten Hinweis darauf, dass unsere Vorhänge unvollständig seien, ja, wir sogar von ihrer Seite des Hinterhofes aus zu beobachten wären, wenn wir die Dinge tun würden, für die ein Schlafzimmer im allgemeinen dient. Ich kann mich getäuscht haben, aber trotzdem fiel mir auf, dass mich die detaillierte Einführung in das Wesen und die Funktion ihrer Vorhänge nicht im geringsten interessierte, mir es sogar ein wenig peinlich war, in ihrem Schlafzimmer zu stehen und die von ihr viel gerühmten Produkte einer bekannten schwedischen Möbelfirma bewundern zu müssen.
Die freundliche aber ständige Schweigsamkeit ihres Freundes an diesem Abend schien aber kein normaler Zustand zu sein, denn während unserer Begegnung auf der Treppe ergreift er das Wort als erster- mein Blick will eigentlich nicht mehr als „Hallo“ sagen, doch er antwortet auf meine nicht gestellte Frage. „Wir haben uns getrennt!“

Das ist natürlich für ein Paar das erst vor kurzem eine Wohnung frisch bezogen hat kein idealer Zustand. Das wird wohl jeder begreifen, der irgendwann mal umgezogen ist. Mein mitleidiges Lächeln ist mir peinlich, da ich den guten Mann ja kaum kenne. Und so suche ich in meinem Kopf nach einer nicht allzu dumm klingenden Wendung, einer Floskel, die es mir ermöglicht irgendwas zu sagen, das ihn und mich selbst nicht als vollkommene Idioten da stehen lässt. Wir nicken uns eine Weile bedeutungsschwanger zu und suchen nach Worten, die Abhilfe aus unserer unangenehmen Situation bieten könnten. Denn letztlich weiß ich ja, dass er weiß, was ich weiß: Es gibt nichts zu sagen, denn unsere Bekanntschaft beschränkt sich auf Oberflächlichkeit. Dennoch breche ich mutig das Schweigen mit „Das tut mir sehr Leid!“ Ich hätte natürlich auch „wahnsinnig Leid“ sagen können, aber das kommt mir zu distanzlos und gerade in Zusammenhang mit dem Verlassen werden sollte man den Hinweis auf krankhafte psychische Zustände eventuell vermeiden. Man weiß ja nie...
Immerhin, diese Worte fallen aus meinem Mund wie ein mit Blei gefüllter Rettungsanker, denn seine Entgegnung ist vorprogrammiert: „Geht schon!“
So schrecklich konventionell diese Unterhaltung, so soll es auch mein Abschied sein! Ich will gerade die Hand zum Abschiedsgruß heben, da geschieht etwas sehr Merkwürdiges. Er tut etwas, das die Situation in ihrer Unerträglichkeit verlängert. Er sagt: „DAS WIRD SCHON WIEDER!“ und klopft mir dabei brüderlich auf die Schulter, als wenn ICH der Verlassene wäre - als wenn er sich wünschen würde, ich hätte diese Form des Beileids aus meinem armen verzweifelten Hirn hervorgekramt, um die gesellschaftliche Barriere zwischen uns nieder zu reißen, ja, um unser beider Männersein als Anlass zu nehmen, die Übertragung, oder zumindest die Teilung des Trennungsschmerzes anzubieten und nun muss er, nachdem ich mich zu dieser Geschmacklosigkeit in keinem Falle hinreißen lassen werde, es eben selbst sagen: Die Heilungsfloskel. Ich habe noch nicht wirklich begriffen, was da passiert, da sprudelt es wie automatisch aus meinem blöde grinsenden Mund:
„Ja sicher, vielen Dank!“
Dann drehe ich mich nur mehr völlig irritiert um und gehe die Hand zum Gruß gehoben aus der Haustür. Erst zwanzig Meter später begreife ich, was da gerade passiert ist und laufe knallrot an.

Mitleid.

Erstaunlich, wie hell so ein Körper sein kann. Wie angemalt. Mit zähflüssiger Lackfarbe angemalt. Der Grundton weiß, vielleicht leicht abgetönt mit einem Schuß ins Gelb. Oder Braun. So glatt und durchgängig angemalt. Da ist kein Fehler, keine Lücke in der Oberfläche. Man sucht ja fast nach Riefen oder Falten, die das Alter anzeigen würden. Aber da ist nichts. Die Muskeln sind definiert, wie es so schön heißt, sie spielen sich als leichte Verwerfungen auf. Eine Landschaft aus sanft auf- und absteigenden Hügeln, die nichts fordert, auf nichts verweist, einfach ist.
Seine Bewegungen sind durchaus zackig. Von geradezu militärischer Präzision. Wahrscheinlich duscht er sein ganzes Leben schon so: rechtes Bein hinten, rechtes Bein vorn. Linkes Bein hinten, linkes Bein vorn. Dann rechter Arm, linker Arm, Rücken, dann Bauch, am Ende dann der Kopf und dann die Prozedur komplett wieder zurück. Da wird nicht lang drüber nachgedacht, da wird einfach geduscht. Eine Sache von nicht mehr als dreissig Sekunden. Das fällt mir auf, weil ich das ja genau so mache. Sonst wüsste ich auch nicht, daß ihm diese Bewegungen in Fleisch und Blut gegangen sind. Ich muss da ja auch nicht mehr drüber nachdenken. Genau so sieht es bei mir übrigens auch während des Abtrocknens aus. Das geht Zackzack! Ha!

Später, im Umkleideraum fällt mir auf, daß er auffallend zuvorkommend ist, als er seine Trainingstasche beiseite schiebt, um mir Platz zu machen, damit ich meinen Spint aufschliessen kann. Aus seinen Augen fällt dann ungelenk sein Alter. Anfang vierzig.
Ich erinnere mich an den Eindruck seines makellosen Körpers unter der Dusche und an meine Blicke, die nicht ohne Neid waren und sehe jetzt die Geschmacklosigkeiten moderner Textilindustrie an ihm. Tatsächlich! weiße Socken und unmögliche Hosen. Ob ihn seine sportlichen Aktivitäten dahin getrieben haben? Ein nervöser Blick streift seinen am Boden liegenden Schlüssel, den er offensichtlich für einen Moment verloren geglaubt hatte. Hastig und verschwitzt gelingt ihm ein halbes Lächeln in meine Richtung. Das ist ihm genug Abschiedsgruß (wir kennen uns ja nicht).
Ich bin froh: Ich habe Mitleid mit ihm.

-0/1/+1/TÜR


Zug verpasst. Dummerweise soll sich später herausstellen, daß die Platzreservierung von Nöten gewesen wäre, nun ja. So also heute wie sonst immer "ohne". Da ich ein halbes Tonstudio mit mir herum schleppe, entscheide ich mich in Hamburg- Dammtor, ein Monster von schwarzem Koffer mit mir herum ziehend, für den Aufzug. Vor ihm ungeduldig von einem Bein aufs nächste tippelnd zwei Mädchen, vielleicht sechs und sieben Jahre alt, zusammen mit ihrer Mutter auf die Ankunft des Panzerglaskäfigs wartend, hinter uns ein Fahrradfahrer, komplett in Campagnolo- Ausrüstung. Hautenge Hose und Oberteil in blau und gelb. Ein Farbklecks mitten im Bahnhof. Erstaunlich, daß sowas in dem ehedem schon bebunteten Innenleben der eigentlich nur aus Kaffe- und Lebensmittelverkaufsständen bestehenden Passage überhaupt möglich ist. Scheele Seitenblicke auf den Farbfetischisten wagend, erkenne ich eine Art Behinderung. Der ängstliche Blick, ein linkisches Verzerren des Mundes, vielleicht ist es auch das merkwürdig angewinkelte Bein, das scheinbar gewollt lässig auf einer Pedale seines Rennrades ruht, das irritiert. Mehr noch, man fragt sich, was so ein Rennfahrer, ausgerüstet um in zwanzig Grad Schieflage eine französische Kurve zu nehmen, denn in einem Bahnhof vor einem Aufzug macht. Genau das denken wohl auch zwei junge Türken, die gegenüber einen Dönerstand bewachen, beide mit nackten Unterarmen auf einer frisch geputzten Glastheke stützend. Unablässig grinsen sie zu dem immer unsicherer werdenden Sportler herüber und stoßen sich gegenseitig in die Rippen und raunen sich auf türkisch Gemeinheiten zu. 
Der Aufzug kommt. Langsam, betörend langsam schiebt sich der Glaskäfig aus dem Keller hoch in unsere Ebene. Eines der beiden Kinder hüpft vor Aufregung an der Hand ihrer Mutter, hinter dem Glas erscheint ein Glatzkopf, gefolgt von einer weißen Jacke, zweireihig geknöpft, ausgefüllt mit  hundert Kilo Kochpersonal. Der Glatzkopf, offensichtlich ungerührt des genau vor ihm auf- und abspringenden Mädchens blickt stur geradeaus, durch die blumig bestrumpften Beine der Kleinen hindurch und greift mit einer ähnlichen Langsamkeit wie der ihn tragende Aufzug selber hinter sich an das Gestänge eines bis oben hin mit undurchsichtigen Plastikbehältern beladenen Wagens. Synchron zu seinem jetzt plötzlichen Zugriff bleibt das Ding mit einem Satz stehen, die Landung erstaunlich holprig, nachdem der Anflug doch wie eine eindringliche, allzu eindringliche Vorführung von moderner Aufzugtechnik wirkte.
Ohne uns eine Blickes zu würdigen, zieht die weiße Jacke laut rumpelnd den Wagen hinter sich über die Schwelle, die beiden Kinder lösen sich kichernd und johlend von linker und rechter Hand ihrer Mutter, stürmen in den Innenraum zu den verheißungsvoll blinkenden, lächerlich überdimensional großen Knöpfen hin. Doch Mutti hält sie zurück, nicht ohne mir freundlich zuzuzwinkern, die lieben Kleinen, wollen auf die dicken Dinger drücken, doch der Herr muß ja auch noch mit. Der bunte Mann auf seinem Fahrrad muß sich wohl weiter zum Gespött der beiden Angestellten in der Dönerbude machen, denn der kleine Raum bietet zu wenig Platz für uns alle Vier. Ein wenig leid tut er mir schon, aber was muß er auch so viel optisches Aufheben um seine sportlichen Ambitionen machen. Selber Schuld.
Mit Schwung bringe ich das dicke Koffermonster vor dem Glas an der Rückseite zur Stellung und will gerade zu einem der Knöpfe greifen, da durchschneidet ein spitzer Schrei die Szenerie. Zwei große Kinderaugen starren entsetzt in die meinen, ein fast kräuselndes, zitterndes Kinn und eine Unterlippe, die gerade beginnt sich nach vorne hin zu verändern, eine Kinderhand greift hilfsuchend zur Mutter, die mir mit einem Verständnis erheischenden Lächeln und einem knappen Seitenblick auf ihre Tochter erklärt, daß die Kleine drücken will. Die dicken Knöpfe. Die so rot leuchten. Hübsch wie Weihnachtsverzierung. Natürlich, meinetwegen, habs nicht eilig. Ich könnte jetzt auch gut einen verständnisvollen Vater abgeben, so wie ich hier stehe, lächelnd - jaja, das kenn ich doch aus meiner Kindheit, da wollt ich auch die Knöpfchen drücken, im Aufzug, damals - in dem Hochhaus von Tante Kerstin. Ein wesentlich grösserer Spass, denn wir hatten da immerhin einundzwanzig Stockwerke. Und die Knöpfe waren mit Zahlen verziert, zwar schon ziemlich am abblättern, aber  die Zahlen waren zu erkennen. Ein Glück für mich damals, daß wir immer nur in den fünfzehnten Stock mussten. Höher kam ich nicht mit meinem Arm. Da hat es die Jugend von heute leichter, die haben dicke Weihnachtsknöpfe in rollstuhlgerechter Umgebung, Emergency-Stop- Atombombenexplosionsknöpfe zum ordentlich drauf Rumkloppen! Ha! Da soll noch einer behaupten, es würde in öffentlichen Räumen heutzutage nichts für spassigen Kinderspaß getan! Knöpfe! So groß wie Tennisbälle! Ha! Allerdings nur vier Stück.
Glückseeligen Kindergesichts holt die Kleine mit der flachen Hand weit in den engen Raum aus und haut so fest sie eben sechsjährig dazu imstande ist auf das rote Ding, unter dem in Helvetica- Condensed "BAHNSTEIG" geschrieben steht. Etwas beleidigt stiert ihre ältere Schwester zur Mutter hin, die ihr zuzischt, ohne ihr Lächeln von mir zu wenden: "Du bist nach unten dran!"

31. 3. 08


1. Als ich heute zum Bankautomaten ging, der sich im Vorraum zu den wenig vertrauenserweckenden, weil ziemlich verwarzten Kundenräumen der Bank befand, die Sicherheitstür mit einem lustigen Klickgeräusch aufstossend, kam mir ein Mann mit hängendem Kopf entgegen. Auf dem Display des offensichtlich vorher von ihm benutzten Terminals prangte die Nachricht "Ihre Kundenkarte wurde aus Sicherheitsgründen eingezogen, bitte wenden Sie sich umgehend an ihre Bank". Aus Angst, daß mir Ähnliches widerfahren könnte, wartete ich nicht darauf, daß die grauenhafte Schrift erlosch, sondern stellte mich in die Warteschlange vor einen benachbarten Automaten, vor dem bereits fünf Wortlose standen, die sich ebenfalls nicht trauten das eben frei gewordende Terminal zu beanspruchen. Auf ihm lastete offensichtlich ein Fluch.


2. Die Galauschlürfer auf der Zeisestrasse wurden aus ihren Gesprächen gerissen, die ganz sicher etwas mit einem arte- Filmprojekt, oder einer Werbekampagne zu tun hatten, wenn man die Gestik und den Klang ihres affektierten Gehabes richtig deuten konnte, als ein ca sechzigjähriger Mann mit schulterlangem, grauen Haar, das er sich mit einem nur noch wenig Zähne tragenden Kamm in den speckigen Nacken ordnete, laut und besoffen seine Meinung kund tat: "Scheiß auf Pauli, HSV ist groß". Das wiederholte er ein paar Mal und gab dann, offensichtlich sehr ungehalten, imaginäre Spielstände zum Besten.

Superfuzz Bigmuff

Auf dem Hinterhof schallt es wieder. Schreie der Begeisterung, die, ausgestoßen während einer energisch ausgeführten körperlichen Bewegung, von einem Willen nach Gesundheit zeugen. 
Uhs und Ahs. Weibliche Stimmen breiten sich ungehemmt aus. Dazwischen ruft eine männliche, Befehle würgende. Die Berufschule, die an das Grundstück grenzt, auf dem das Haus steht in dem ich wohne, beherbergt offensichtlich am Wochenende Fitness- Kurse, in denen alles erlaubt ist. Ich sehe sie deutlich vor mir: die jungen Mädchen mit ihren knackigen Ärschen, hochbesorgt um die Knackigkeit ihres Arsches und die nur mit größter Aufmerksamkeit zu bemerkenden schlaffen Stellen an ihren Oberschenkeln. Sie wissen nicht, was sie diesen Hautbereichen zu verdanken haben. Immer wenn es wieder mal in ihrem Leben ein emotionales Problem gibt, werden diese Stellen dafür verantwortlich gemacht. Der klärende Dialog ist ihnen fremd, sie brüllen ihre Gefühle heraus, im Rahmen eines Fitness-Kurses am Wochenende in der Berufschule, die an dem Grundstück angrenzt, auf dem das Haus steht in dem Ich wohne, bereit Alles zu tun um sich als Mitglied einer Gesellschaft von sexualobjekthaften Wesen zu designen. Meine Müdigkeit ist größer als diese geballte Dummheit der Fitnesswilligen. Sonst würde ich über den Hof gehen und sie alle nacheinander hinwegfegen mit meiner eigenen Stimme. Einer Stimme, die an das Feedbackgewitter eines Superfuzz Bigmuff erinnern würde und sie, die noch nie von diesem Gerät gehört hätten, geschweige denn dieses Gerät gehört hätten, würden mit einer Wendung ins Schamhafte einknicken und sich zu Boden werfen wie rostige Klappstühle am Ende eines sonnigen Tages am Rhein. Ja, Sie würden sich für ihre haltlose Dummheit entschuldigen und zu besseren Menschen werden. Wahrscheinlich.