Geest und Berge


Plattland
Am vorletzten Tag unseres Urlaubs fahre ich von unserem Domizil, einem Wohnwagen auf der Halbinsel Nordstrand, nach Rendsburg, die Stadt, in der ich einst aufgewachsen bin. Ich hole dort das Mietauto ab, das uns von dem Urlaubsort wegbringen soll. Dreiundsiebzig Kilometer sind es bis dorthin. Keine wirklich lange Tour, aber gerade eben so weit, um sich mal ein bisschen der Straße hinzugeben. Mein Fahrrad dafür ist ein klassisches Fixie mit achtundzwanzig Millimeter breiten Reifen und einer Siebenundvierzig zu Siebzehn- Übersetzung. Ich fahre es seit ca einem halben Jahr und bin immer noch ziemlich verliebt. Auch wenn ich bereits echte Nachteile an Steigungen bemerken durfte. Aber die gibt es ja im platten Schleswig-Holstein nicht wirklich. Die Strecke selbst kenne ich wie einen guten Freund- bin ich doch meine gesamte Kindheit hindurch jeden Sommer an Wochenenden mit meinen Eltern auf den Campingplatz gefahren, von dem ich jetzt aus starte. Ich brauche also keinen Navi, nehme ihn aber trotzdem mit, schon allein um den Weg aufzuzeichnen und später mit meiner Geschwindigkeit angeben zu können. Glücklicherweise brauche ich nicht viel. Eine Regenjacke, Sonnencreme und einen Liter Apfelschorle. Los geht’s.  

Österreich
Nach unserer Zeit in Norddeutschland sind wir in Bayern. Ich komme ja aus dem hohen Norden. Mein Weib allerdings aus Oberbayern, wo wir nun ihre Familie besuchen. Einer meiner bayrischen Schwager ist begeisterter Mountainbiker, fährt ein sündhaft teures Liteville, welches er allerdings schon einmal während eines Rennens geschrottet hat. Rahmenbruch. Was eigentlich völlig unmöglich ist, wenn man den Entwicklern von Liteville glauben schenken mag. Seitdem wird er lustigerweise zu ziemlich günstigen Konditionen mit Qualitätsware von gleicher Firma beliefert. Er wollte mich schon immer mal netterweise zum Trail- fahren ausführen, und so organisiert er einen Tag in den Bergen für seinen Bruder und mich. Das „Bike-Eldorado“ in Saalbach-Hinterglemm (Österreich) ist unser Ziel. Am Tag der Anreise reserviere ich mir noch ein knallgrünes Enduro von KTM bei einem der örtlichen Halsabschneiderläden für den nächsten Tag, und wir streifen durch den Ort, besteigen den Kletter- und Wandergarten des „Baumzipfelweges“ in dem etwas abseits liegenden Hinterglemm. Ein ausgeklügeltes, touristisches Konzept ist das hier! Mein kleiner Sohn ist restlos begeistert! Sowohl ist an die Kinder, als auch an die sportlich orientierten Erwachsenen gedacht worden. Was mir aber direkt in Saalbach auffällt, sind die zahllosen Mountainbiker, die gekleidet wie Eishockey-Spieler und völlig dreckverschmiert durch das Örtlein cruisen. Ein wie angelerntes, breites Grinsen und der Einheitslook einschlägiger Mountainbike-Kleidung machen mich erstmal mißtrauisch. Sobald der Trend sich vor das eigentliche sportliche Ereignis schiebt und ein „Trendsport“ draus wird, ist der Drops ja eigentlich gelutscht. Das kennt man ja schon von der Musik. Popkultur, ik hör dir trapsen!  


Wind
Um von der Insel Nordstrand weg- oder hin zu kommen, gibt es nur einen Weg: Den Damm. Damals, in den Siebziger Jahren, wenn wir auf Nordstrand ankamen, haben wir von ihm aus immer geschaut, ob gerade Flut oder Ebbe im norddeutschen Wattenmeer herrschte. Heute ist das nicht mehr so leicht, da zumindest eine Seite seit 1992 mit einem Koog vorgebaut ist. Dort existiert nun ein riesiges Natur- und Vogelschutzgebiet, das von der Insel bis ans Festland reicht, und somit die Insel auch keine Insel mehr sein lässt, was aber von den Nordstrander Insulanern nicht wirklich wahr genommen wird. Wo heute geschütze Vogelarten brüten können, haben wir damals nach Überbleibseln der versunkenen Stadt Morsum gesucht, die nach der großen Sturmflut 1977 frei gelegt wurden, nachdem riesige Massen des Watt-Schlicks weggespült wurden. Ganze Tonkrüge, Knochen und Werkzeuge wurden damals dort gefunden. Ich müsste heute noch irgendwo einen versteinerten Kuh-Knochen haben, der dort, konserviert im Watt, auf mich gewartet hat, wenn ich ihn nicht bereits weggeschmissen habe. Mit dem Blick auf diese Salzwiesenlandschaft biege ich um die langgezogene Kurve auf den Damm ein, mich über den eher schlechten Radweg ärgernd. Auf der gesamten Insel ist nämlich Radwegbenutzungspflicht angeordnet, was bei einem 27er Schnitt nicht wirklich Spaß macht und von mir deshalb auch gerne mißachtet wird. Nur auf dem Damm sollte man sich wirklich fern der Autos bewegen. Dort herrscht Tempo 100 und viel zu wenig Platz. Aber da ist noch etwas anderes was mich ärgert. Wir haben starken Ostwind. Und ich muss nach Osten...  


Protektor
So langsam wird mir mulmig. Matti, der Enduro-Experte kleidet sich ein, und ich muss beim Frühstück zur Beruhigung eine riesige Schüssel Müsli mit Früchten essen. Seine „Protektoren“ an Knie, Ellenbogen und Kopf machen mir ein wenig Angst. Im Bike-Verleih dann der nächste Schock: die Protektor- Dinger für mich werden einzeln berechnet. Ein teurer Spaß ist das: Neunundvierzig Euro das Enduro, Zwanzig Euro für das Gesamtpaket Protektoren. Ich versuche zaghaft zu rebellieren, aber sowohl Matti als auch der Österreicher, den ich kaum verstehe, überzeugen mich über die Wichtigkeit der ganzen Ausstattung. Nach einigem Hin- und Her hab ich mein Zeugs zusammen und sehe damit aus wie ein Skater- Robocop. Eben wie alle Biker hier im Ort. Die meisten von denen, wie ich dann an der Gondelstation sehen kann, haben sogar noch Brust- und Rückenpanzer auf ihren Heldenkörpern draufgeschnallt. Nicht zu sprechen von den bunten, stylischen Schriftzügen, die das ganze Sportsvolk garnieren. „Soldaten auf Acid“, so schießt es mir durch den Kopf. Meinem Sohn muss ich mich später unbedingt in dieser Montur präsentieren, er wird auf ewig in Respekt vor mir versinken! Ich mache mir langsam Sorgen, daß das ganze in Arbeit ausarten könnte, so ernst sind die Gesichter der in einer langen Schlange vor der Gondel Wartenden. Kompliziert auch das Besteigen der Gondel. Maximal fünf Radler passen mit ihrem Gerät da rein. Hinterrad aufgestellt und Lenker versetzt, werden wir in das schaukelnde Dings hineingepresst. Das Vorderrad Mattis schmiegt sich verliebt an meinen Hals, und ich ärgere mich, daß ich mein Lauf-Longsleeve nicht mit sechzig Grad gewaschen habe, aber irgendwie ist auf frecher Nachfrage meinerseits jeder der Anwesenden überzeugt davon, daß er jetzt schon selbst unerträglich nach Schweiß stinkt. Wahrscheinlich ist das auch so, aber der eigene Schweiß ist einem auch in so einer engen, heißen Gondel doch am nächsten. Glücklicherweise. Die beiden anderen Biker aus Leipzig lachen über unsere Witzchen und gestehen, daß sie im Osten keine Berge haben. Erst jetzt bemerke ich, daß ich mein Telefon vergessen habe, ein Foto von dieser absurden Situation würde ich gerade nur allzu gerne machen. Denn abgesehen von unseren lustigen Verrenkungen in der Gondel ist nämlich das Panorama ganz schön atemberaubend! Das „Steinerne Meer“ erstrahlt in seinem mächtigen Glanz, und fünf stinkende Berufsjugendliche schaukeln mit Geräten im Wert von zehntausenden Euros dem Gipfel entgegen.


Husum
Der Damm macht mich fertig. Nein, der Wind macht mich fertig. Der Wind auf dem Damm macht mich fertig. Dort ist kein Baum, kein Haus, links und rechts nur Salzwiesen und blökende Schafe. Wie nackt und ausgeliefert werfe ich mich dem Feind entgegen, aber ungefähr auf Hälfte des Dammes kommt mir zum ersten Mal der Gedanke, daß der Wind wahrscheinlich nicht aufhören wird. Im Gegenteil, ich habe den Eindruck, daß er immer stärker wird. Wenn es anderswo Berge gibt, die man nur mit Superdupersonderritzelübersetzungen erklimmen kann, so ist es in Norddeutschland der Wind, der eine Herausforderung darstellt. Und ja, ich habe nur das eine Ritzel. Verdammte Axt. Endlich bin ich am Ende des Dammes angelangt und die Straße nach Schobüll beschreibt eine lange Rechtskurve, die mich langsam aber sicher schräg zum Wind stellt. Erleichterung macht sich breit und ich trete mich gleichmässig wieder in einen siebenundzwanziger Schnitt hinein, nicht ohne zu bemerken, daß neben dem völlig unmöglichen Rad/Fußwegen wieder überall blaue Radschilder (Zeichen Zweihunderteinundvierzig- die verhasste Radwegbenutzungspflicht) gesetzt sind. Erstaunlich aber wie nachsichtig hier Autos überholen. Obwohl wenig Platz auf den Straßen ist, wird fast immer der vorgeschriebene Mindestabstand von 1,50 Meter eingehalten. Da kann man mal sehen, wie entspannt die Leute im Urlaub, und in einer schönen Landschaft unterwegs sind. Erst in Husum werde ich einmal von hinten wütend angehupt. Aber das soll auch schon der einzige Vorfall dieser Art für die gesamte Tour sein. Bei Kilometer Achtzehn, mitten in Husum, werde ich unsicher ob des Weges. Ich schlage im Handy nach und überprüfe die Route während ich an einer Ampel halte. Komoot zeigt genau den gleichen Weg an, den ich damals immer und immer wieder mit meinen Eltern in ihrem kleinen VW-Käfer zurückgelegt habe. Sehr gut, das gibt mir Sicherheit. Ich durchquere Husum, nicht ohne die verwunderten Blicke anderer Radler zu bemerken, die erst auf meine Existenz jenseits des Radweges, und dann auf die spezielle Form des Fixies zielen. Ein bisschen großstädtischen Stolz spüre ich schon in mir, und mich durchfliegt der Gedanke, auf die blöden blauen Schilder eines der immer von mir mitgeführten Aufkleber der „Critical Mass Köln“ zu pappen. Aber ich möchte ja meinen Schnitt nicht versauen und kämpfe mich weiter auf die Landstraße nach Mildstedt vor.


Himmel und Hölle
Der Gipfel des Kohlmaiskopfes ist erklommen! Juhu! Wie erlöst stolpern wir aus der schaukelnden Gondel heraus. Eigentlich macht es ja mehr Spaß selber die Höhe mit den Rädern zu erklimmen, als sich mit diesem technischen Aufwand einer den Berg zerstörenden Gondelanlage hinaufbefördern zu lassen, aber für solche Weltverbesserungsgedanken ist hier oben kaum Zeit. Ein kurzes, atemloses Briefing von Matti klärt mich auf: Besser nichts überstürzen! Das ist insofern komisch, als daß er sich selbst ein paar Sekunden nach seinen Ausführungen die enge, ausgehölte Mulde den Abhang hinunterstürzt, als wären gerade hinter ihm mehrere Atombomben gezündet worden. Stirnrunzelnd und etwas verdattert schaue ich ihm etwas skeptisch hinterher, wie er Haken schlagend den Weg hinunterwedelt. Auch sein Bruder, Flo, verabschiedet sich dann mit einem knappen „Bis später“ und stürzt sich als Nächster hintendrein. Ich muss ein paar Mal tief durchatmen und dann traue ich mich auch. Ich muss ja nicht mal treten - denn es geht abwärts! Erfreut über die guten Bremsen stottere mich über Stock, Stein, Loch, Wasserloch, Fels, Wurzeln und Schotter. Überall liegen irgendwelche Steine herum, die mir Angst machen. Der Abgrund, rechts oder links- so genau will ich das garnicht wissen, schießt wie ein Höllenschlund an mir vorbei und ich versuche mich immer an den Blumenwiesen auf der jeweils anderen Seite zu orientieren. Dort die Himmelswiese, da die Hölle. Dante muss Mountainbiker gewesen sein! In den Kurven bin ich viel zu ängstlich. Und auch zu langsam. Immer stört mich irgendwas, als daß ich mich gerne in die von unzähligen Reifen gekennzeichneten, hochgezogenen Kurven hineinstürzen könnte. Doch dann merke ich immer mehr, wie ich mich auf mein Gerät verlassen kann. Selbst wenn Matti vorher meinte, daß KTM nicht unbedingt die anerkannteste Herstellerfirma für Mountainbikes ist, so spüre ich doch wie ich Sicherheit durch das Profil der Reifen, die Geschwindigkeit der Kugellager und der Federungen habe. Das macht mich offensichtlich etwas zu sicher. Zu steil fahre ich in einen langgezogenen Anlieger des Milky Trail auf dem Kohlmaiskopf und hups ... komme auf der anderen Seite der Kurve wieder heraus und spüre schon, daß das hier in einem Sturz enden wird. Glücklicherweise kann ich mir noch rechtzeitig einen schönen Grasbüschel aussuchen. Das Rad und ich, wir trennen uns- ein grünes KTM verschwindet im Trail und ich selbst koste ein wenig von köstlicher, österreichischer Blumenwiese. Lecker!  


Dicke Männer und ein Liebespaar
Mildstedt. Ich verlasse den Küstenbereich um Husum, in dem das Wetter traditionellerweise verrückt spielt. Das ist nämlich eigentlich meine stille Hoffnung gewesen, daß mich hier etwas anderes erwartet als der steife Ostwind. Früher war es immer so, daß wenn es in Husum geregnet hat, auf Nordstrand eitel Sonnenschein war. Warum soll dann nicht hinter Husum einfach auch mal der Wind drehen? Tut er nicht. Im Gegenteil. Bei Kilometer Vierundzwanzig macht die Straße, die mittlerweile nicht mal mehr einen verhubbelten Fahrradweg neben sich führt, eine langsame, aber nicht enden wollende Linkskurve und führt mich mitten hinein in das Auge des Zorns, meines Feindes, dem bösen, gemeinen Ostwind. Wie ich später erfahre, sind bereits Menschen an der Ostküste Schleswig-Holsteins ertrunken, weil der Ostwind auch dort wütet. Nun gut, vielleicht ist es nicht der gleiche, der mir hier begegnet, aber auf der Ostenfelder Landstraße, die lang, lang an hochschießenden Windkrafträdern vorbeischießt, bin ich wieder genau so ausgeliefert wie vorhin auf dem Nordstrander Damm. Bei Kilometer Siebenundzwanzig halte ich an einem Viehgatter, um Flüssigkeit und Riegel zu mir zu nehmen, und auch endlich einen der „Critical Mass“- Aufkleber loszuwerden. Vielleicht fängt der Bauer an, Fahrrad zu fahren wenn er den sieht. Wer weiß. Die etwas verschlafenen, norddeutschen Dörfer Ostenfeld und Hollingstedt folgen. Hier haben wir damals oft angehalten, um die sich dort ansiedelnden Störche zu beobachten. Extra für deren Nestbau aufgestellte Betonbäume säumen die Straße und Hollingstedt, mein Lieblingsdorf auf der Strecke, hat noch ein anderes Leckerli für mich bereit gehalten. Es gibt hier eine wunderschöne Badestelle an dem Flüsschen, durch das vor tausend Jahren die Wikinger kamen, um ihre Schiffe übers Land zu transportieren. Als ich mich, erschöpft vom ständigen Gegenwind, vom Rad fallen lasse und dem Wasser nähere, werde ich mißtrauisch von zwei dicken, jungen Männern gemustert, die fast regungslos im Fluss stehen. Irgendwo neben ihnen knutscht, ebenfalls bis zur Hüfte im Wasser, ein Pärchen. Ich presse ein mürrisches „Moin“ heraus, und rotze einen Mund voll Radlerspeichel ins Schilf. Das „Moin“ der Dorfjugend folgt stante Pede, und desinteressiert schweifen ihre Blicke wieder von mir zu den Küssenden. Mein Gesicht freut sich über das kalte Wasser der Treene. Ich fülle auch meine Mütze damit, wringe sie sacht aus und setze sie wieder auf. Ich muss weiter. Durch die Tropfen, die von meinem Mützenschirm auf den Lenker plumpsen, beobachte ich nochmal die absurde Szenerie an der Badestelle. Auch die vier Jugendlichen schauen mir stumm hinterher.  


Aua
Plötzlich ist Matti neben mir und redet beruhigend auf mich ein. Der Sturz hat mich ein wenig durcheinandergewirbelt, aber es scheint Alles noch ganz heile. Ich erkläre ihm meinen Fehler und er gibt mir Tips, was ich gerade in den Anliegern besser machen kann. Immer schön da rein fahren. Immer schön dort fahren, wo tausende Andere auch schon gefahren sind. Klingt logisch. Plötzlich müssen wir zurückweichen in die Grasbüschel und ein paar Biker schießen an uns vorbei. Von weiter oben hören wir Stimmen. Zwei Biker. Zu Fuß. Einer führt zwei Räder den Trail hinunter, ein anderer humpelt ihm mit freiem Oberkörper und einem merkwürdig angewinkelten Arm hinterher. Den hat’s wohl schlimmer erwischt als mich. Beide sehen nicht unbedingt wie Anfänger aus und ich denke mir: „lieber das Gras küssen als Schlüsselbeinbruch.“ Wir warten nicht auf sie und lassen uns weiter den Berg hinabfallen. Es folgt wieder einiges an Steinen, Löchern und Kurven und meine Konzentration ist gefragt. Ich begreife langsam, was diesen Sport ausmacht. Es ist nicht die federnde Kraft in den Beinen, die ich gerade brauche, weil mir die Technik fehlt, es ist auch nicht die in den Armen, oder mit welcher Kraft der Lenker von meinen Händen gehalten wird und wann dort die Ballen zu schmerzen beginnen, es ist meine Konzentration, die langsam ob dieser Anstrengungen des Körpers schwindet. Die wird hier gerade trainiert. Unten angekommen lasse ich mir von meinen beiden Begleitern eine gute Anfängerqualität bescheinigen und wir machen uns auf zur nächsten Gondel. Jetzt geht’s auf zum Westgipfel, der Hacklbergtrail ruft!  


Hirschland
Der Wind, das himmlische Kind, hat sich leicht eine andere Richtung überlegt. Ost gefällt ihm nicht mehr und er hat sich mit dem Norden angefreundet. Das ist gut, denn dann ist er von mir ein wenig abgelenkt. Kurz vor Dörpstedt gibt er mir sogar ein wenig Schwung. Jetzt hatte ich mich auf den Kampf eingestellt, und dann das! Ich bin sehr dankbar. Doch leider ist es nur eine Finte des Weges. Direkt nach der Kurve in Dörpstedt steht mein neuer Kurs. Nord-Ost. Na toll. Ich kämpfe mich nun also weiter durch dieses unglaublich häßliche Dorf. Gott, ist das häßlich! Ich stelle mir vor, wie trostlos es sein muss, in so einem Grauen aufzuwachsen. Entweder du nimmst Drogen oder bist Nazi. Es besteht nämlich aus nichts Anderem als einer verdreckten Straße. Links und Rechts reiht sich ein Häuschen an das nächste, alle sehen irgendwie schlimm aus. Entweder mit Stacheldraht versehen oder arg renovierungsbedürftig. „De Schlagboom“, eine ehemals bekannte Dorfschänke, brannte hier irgendwann in den Achtzigern bis auf die Grundmauern aus. Zwei Jahrzehnte konnte man die verkohlten Reste dieses ehemals reetdachbedeckten Hauses bewundern. Wie ein vergammelter Zahn stand die Ruine an der zentralen Stelle des Dorfes. Man sprach damals von einem Versicherungsbetrug, und dann wollte, oder konnte es Niemand kaufen- ich weiß es nicht. Heute sind dort frisch renovierte Eigentumswohnungen zu bewohnen. Aber auch die sehen schrecklich aus. Ich frage mich, ob es in diesen seelenlos aufgehübschten Spießerträumen wohl spukt? Vielleicht geht dort heute ja der Geist des Brandstifters um! Schnell weg. Der Ortsausgang ruft mir noch zu, dass ich einen Fernseher kaufen soll, denn hier regiert der örtliche Elektrotechnikverkäufer, aber ich fliehe was das Zeug hält. Ich gewinne nun an Fahrt, denn die Straße ist leicht abschüssig. Und der Wind hat nachgelassen. Das wirkt. Allerdings bin ich gezwungen auf der Straße zu fahren. Und die Autos rauschen hier mit 120 Km/H vorbei. Kein gutes Gefühl, denn es ist doch recht eng hier. Ich lasse mich nicht beirren, trete und ziehe was das Zeug hält. Die Bäume des angrenzenden Waldes stehen recht nah und ich erinnere mich: Wenn man da Nachts mit Fernlicht durchfährt, hat man ständig Angst, daß Wild von der Seite in die Windschutzscheibe springt. Ich spüre, wie die vorbeirauschenden Autos mich zu mindestens siebzig Prozent als Hirsch begreifen.  


Natur erleben
Auf der Straße Fahren mit so einem Enduro All Mountainbike ist ja jetzt nicht so die allertollste Angelegenheit. Sicher, man fühlt sich wendig, und eigentlich würde man doch am liebsten immer wieder irgendeinen Abhang hochfahren oder spaßeshalber zwischen Bürgersteig und Straße hin- und herspringen. Und weil das so ist, haben sich die Mountainbiker etwas lustiges ausgedacht: Sie fahren auf dem Hinterrad. Das kann ich natürlich nicht, aber ich bewundere Mattis Ausdauer, mit der er dieses Kunsstück zur Schau stellt. Ich würde ja gern auch ein bisschen Stolz sein, so wie die anderen posenden Biker. Stolz auf den schwierigen Trail, den ich gerade gefahren bin, von dem die Dreckspritzer an meiner Kleidung und dem Radl zeugen. Die kleben an mir wie Orden an der Brust eines Soldaten. Ich könnte die Blicke der Passanten auf mich ziehen, die in Wandermontur etwas verständnislos und ängstlich auf diese jungen Menschen blicken, die mit ihrem Dingsbums da so modern aussehen. Aber Etwas hält mich ab. Ich weiß nicht genau was es ist. Vielleicht komme ich mir doch etwas lächerlich vor. Denn ich will ja eigentlich gar keiner Comicfigur gleichen. Den Sattel auf dem ich sitze kann ich mit einem Knopf am Lenker hoch- und runterfahren. Sehr praktisch. Denn bei der Abfahrt stört er nur, und beim normalen Fahren würde ich ihn schon vermissen. Ich probiere ihn jetzt auf der Straße immer wieder aus, und weiß daß das lustig aussieht. Jetzt fühle ich mich etwas besser. Der „Schattberg-Express“ wartet schon. Nein. Er wartet natürlich nicht. Ist ja ne Gondel, und Gondeln warten nicht. Wir haben diesmal Glück. Der Andrang vor den Gondeln hat sich gelegt, und wir können entspannt und ohne uns schlimm zusammendrücken zu müssen in der Gondel stehen. Wir überlegen uns, was wir tun würden, wenn wir jetzt hier eingeschlossen wären und es keine Rettung gäbe. Dreißig Meter unter uns bis zum Boden und hundert bis zum nächsten Stahlturm. Uns fällt nicht viel ein. Mir kommt es gerade ziemlich unglaublich vor, daß es Menschen gubt, die sich an eben solchen Stahlseilen, wie sie unsere Gondel halten, nur an einem Karabiner hängend, von Gipfel zu Gipfel bewegen. „Das hat doch nichts mehr mit der Natur zu tun“, so schießt es mir durch den Kopf.  


Geist
Die Straße nach Groß Rheide führt mich an Bauernhöfen und nicht enden wollenden Feldern vorbei. Der Streß, sich vor dem motorisierten Verkehr fürchten zu müssen, treibt mich auf den Radweg. Erst auf den linken, der für beiden Richtungen freigegeben wurde, dann wieder auf den rechten, als der linke plötzlich endet. Ich bin genervt. Tatsächlich merke ich schnell, daß es keine Radwege sind, die ihren Namen verdienen und ich versuche Baumwurzelsprünge einzulegen. Ein hetereosexuelles Pärchen mit Hardtails kommt mir entgegen, sie schleppen riesige, rot leuchtende Packtaschen an ihren Farrädern mit sich. Vielleicht, weil man hier so selten anderen Fahrradfahrern begegnet, vielleicht auch nur weil der Weg so eng ist halten wir an und grinsen ein wenig debil. Ihre etwas verwunderten Blicke auf mein Creme bemerkend frage ich sie kurz: „Wird das da hinten besser?“ und deute auf die Baumwurzeln. „Kaum“ sagt der Mann, und woher ich käme. Von der Küste, soso, sehr interessant, wo denn dort ein Zeltplatz sei. Ich bin nicht auskunftsscheu, und so fahren die beiden, freundlich nickend weiter. In Schleswig-Holstein kann man als Radler noch echte Gemeinschaftsgefühle auf den Landstraßen erleben. Auf der Straße geht’s wieder besser, schneller und flugs fliege ich nach Groß Rheide hinein. Ein extrem verschlafenes, aber durch und durch gepflegtes Dorf. Ich frage mich, ob die Bewohner um den ersten Platz im Blumenpflanzen kämpfen, denn es blühen die Vorgärten in allen Farben. Kinder laufen halbnackt und Barfuß auf dem Gehweg, so selbstverständlich, als wären sie in in ihrem Wohnzimmer. Als ich vorbeidüse bleiben sie wie angewurzelt stehen und starren, als hätten sie einen Geist gesehen.


Toilette
Die Aussicht in so einer Gondel wird ja jäh durch die Gondelstation beendet. Dort muss man sich dann auch erstmal zurechtfinden, denn die Türen gehen auf, die Gondel gondelt weiter. Du musst raus, die Gondel gondelt noch weiter. Dann musst du zur anderen Gondel, in der dein Fahrrad steht, das dort herauszerren, während die Gondel immer noch weitergondelt. Du bekommst allerdings Hilfe von einem Typen mit einem Anzug wie aus einem Heimatfilm und du verstehst kein Wort von seinem Kauderwelsch. Aber zum Abschluß lächelst du lieb, auch wenn er dich gerade wahrscheinlich einen totalen Vollidioten geschimpft hat. Das Gute an Gondelstationen ist ja, daß sie total saubere Toiletten haben. Hier könnte man sogar übernachten. Das riecht so toll und ist alles blitzeblanke. Aber sowas von! Mitten in der wildesten Natur wird der olle Mensch mit seinem Enduro hingeschmissen und schmeißt sich dann gar selbst in den Dreck, aber wenn er scheißen muss, dann soll’s auch schön geputzt sein! Wir schieben Die Fahrräder jetzt. Verdammt. Ich hatte zuerst ja gedacht, daß es sich für so einen Mountainbiker nicht gehört, das verdammte Radl zu schieben, aber jetzt ist mir das auch egal. Ich pfeife auf dem letzten Loch, denn es geht gefühlte 45 Grad Bergauf. Die Gondelstation ist noch nicht der Gipfel, und auf den wollen wir ja, schon weil wir dann wieder runterfahren wollen. Eigentlich ein bisschen deppert, so aus transporttechnischen Beweggründen gesehen, aber es handelt sich hier ja glücklicherweise um Sport. Ich wundere mich noch, daß an so einem Berg nicht mehr passiert, weil ja ständig irgendwas runterfallen könnte, da kommt ein Schaf hinter einem Stein hervor und knabbert an diesem lächerlich grünen Berggras. Ich könnte ihn ja jetzt von seinen Kumpels auf der Hallig grüßen, auf der ich mich noch vor drei Tagen befand, aber ich habe keine Zeit. Ich muss schieben. Endlich, die Hochalm. Die hat auch ihren Namen verdient, und die Anderen machen schöne Fotos von den Wolken, die sich unter uns im Tal ausbreiten. Ich vermisse ein wenig mein Handy, esse einen mitgeschleppten Schokoriegel, doch der Frieden währt nicht lang. Matti drängt zum Aufbruch und kaum hat er die Vorzüge des nächsten Trails beschrieben, stürzt er sich schon wieder in so eine Furche hinein. Ja, das ist auch mein Weg sage ich mir und könnte mich ohrfeigen. Obwohl ich schon vor Monaten das Rauchen aufgegeben habe, würde ich jetzt gerne. Ich trete die Pedale und stürze hinterher.  


Wagenrad und Schleichweg
Außer Blumen, Reetdachhäusern und spielenden Kindern gibt es in Groß Rheide noch das „Wagenrad“. Eine Dordisko. Kneipe ehemals. Verkauft sich heute unscheinbar als Dorfgasthof. Aus Erzählungen meiner Geschwister weiß ich, daß sich dort in den siebziger, achtziger Jahren gerne auch mal Rocker trafen, und die Kneipe dadurch in zweifelhaften Ruf geriet. Meine Kinderphantasie malte damals jedesmal gefährliche Bilder von Hells Angels, wenn wir hier vorbei fuhren, und das Gebäude wurde vor meinem inneren Auge zu einer wahren Räuberhöhle. Das hölzerne Wagenrad, das zur Dekoration und als Namensgeber auf der anderen Seite der Straße immer noch an einem großen Stein befestigt ist, sieht dabei so harmlos aus! Die Hauptstraße will mich aus dem Ort herausführen, aber ich weiß es besser! Ist doch meine Mutter damals immer den „Schleichweg“ gefahren. „Sollen wir heute wieder den Schleichweg fahren?“ fragte ich oder meine Schwester, wenn wir damals von Nordstrand zurück nach Rendsburg fuhren. Wir hofften nämlich, daß sich meine Mutter hier dazu bewegen ließe ein paar Blumen, oder Sträucher zu pflücken, denn dann konnten wir nach Mais Ausschau halten. Zum Abendbrot war der mit Butter bestrichen eine willkommene Abwechslung. Außerdem hatte das Mais klauen eine gewisse illegale Komponente, die uns ein bisschen Aufregung versprach. Leider würde Derjenige, der das heute versuchte, nicht viel Spaß daran haben. Es sei denn, er isst gerne Kieselsteine. Ich bin überrascht. Der geheime Weg ist tatsächlich für Fahrräder ausgeschildert! Als Sackgasse mit dem Zusatz eines kleinen Fahrrad-Icons. Ich bin fast ein wenig entäuscht. Unser „Schleichweg“ wird offiziell beschlichen. An seinem Ende steht eine dicke, rot-weiße Sperre, die über einen kleinen Hügel umfahren werden kann. Die Knicks neben mir lichten sich und vor mir tut sich Kropp und seine Kasernenbauten auf.  


Vater, Sohn und Luftpumpe
Der Trail ist nicht ganz so zickig wie der von Vorhin. „Landschaftlich total schön“, so tönt mir noch Mattis Beschreibung im Kopf, aber ich frage mich, wie ich das bemerken soll. Bin ich doch voll und ganz mit meiner Konzentration bei den Steinen und Wurzeln vor mir, den Anliegern und den Holzbrückchen, die mir in schwindelerregender Höhe über schlimme Abgründe hinweghelfen sollen. „Nur nicht zu lange nachdenken, und immer schön in der Spur bleiben“, so spreche ich mit mir selber, und das hilft auch. Tatsächlich weiß ich die schlimmsten technischen Defizite mit meinen Beinmuskeln auszugleichen. Wie eine eine gespannte Feder klammere ich mich in mein Enduro hinein, möchte mit ihm verschmelzen. Dann kommt das, wovor uns Matti noch vorher gewarnt hat: Unvorhergesehene Dinge, die einen ziemlich überraschen! Ein Loch klafft plötzlich vor mir auf. Ein Loch, in dem das schwarze Wasser steht. Ich auf einem rutschigen Fels, muss in das Loch hinein, so scheint es mir, der Fels will es ja auch so. Mit aller mir verfügbaren Kraft reiße ich am Lenker, wärend Das Loch mich umarmen will und tatsächlich- das Vorderrad kippt nach oben und ich sause hinterher. Das war nur der Bruchteil einer Sekunde, wie es so schön heißt, aber ich bin jetzt tatsächlich ein bisschen stolz, daß ich dem dunklen, schlammigen Loch entkommen bin. Ich schaue zu Matti und ärgere mich, daß ich nicht so leicht über diese dummen Hindernisse hinüberspringen kann wie er, sonder Angst vor schlammigen, schwarzen Löchern habe. Nach ein paar mehr waghalsigen Serpentinen, Wurzeln und Schlamm führt uns der Weg auf einen Forstweg. Hier kann man nun endlich mal durchatmen, und muss sich nicht mehr so schlimm konzentrieren. Bei einem Vater, der seinem armen Sohn gerade fluchend am Wegesrand einen Platten flickt, heizen wir durch eine tiefe Pfütze, daß es spritzt. Matti schwämt von tollen Mountainbike-Bildern, die durch Pfützenspritzen entstanden sind, und wir beschließen auch so welche zu machen. Spritzbilder. Erst bin ich an der Reihe. Nochmal hochfahren, dann mit Karacho durch den See und hoffen, daß Matti im rechten Augenblick abgedrückt hat. Danach ist dann Matti dran. Der fluchende Vater pumpt derweil mit einer lächerlich kurzen Luftpumpe den Reifen seines Sohnes auf. Auf seine Nachfrage gestehen wir ihm: wir haben leider auch nur eine lächerlich kurze Luftpumpe dabei. Mir tut der Kurze leid. Das Vaterfahrrad ist sowohl hinten als auch vorn gefedert und Sohnemann muss sich mit einem Hardtail zufrieden geben. Ich zwinkere ihm freundlich zu, und er lächelt zurück. Wenn er wüsste, daß ich gar kein cooler Oldscool-Biker bin, so wie er nämlich wahrscheinlich nach meinem Bart, der Kleidung und dem Verschutzungsgrad meiner Billabong-Hose annimmt, sondern ein blutiger Anfänger, er hätte mich wahrscheinlich angespuckt.  


Tropfen
Kropp ist wie sein Name. Es weiß nicht, was es sein will. Dorf? Oder was? Vielleicht passt auf diese Ansammlung von unglaublich langweiligen Einfamilienhäusern tatsächlich nur der Begriff „Ort“. Hier wird man kein einziges reetdachbedeckte Haus mehr finden, selbst das wäre den Kroppern wohl zu libertär. Aber vielleicht bin zu ungnädig mit Kropp - es gibt hier doch sogar eine Irrenanstalt! Und einen Dorfplatz, auf dessen Mitte eine Pommesbude steht, die hervorragende Grillhünchen verkauft. Mein Blick geht sehnsüchtig zu ihr hin. Vor Urzeiten, als ich mich noch als einen jungen Mann und Musiker bezeichnet habe, saß ich dort mal mit meiner Band und wir haben gemeinsam Fleisch gegessen. Jetzt kaufe ich mir, als fast alter, schwitzender Mann an der Tanke gegenüber nur eine Flasche Wasser. Vor der Kasse muss ich warten und schaue auf mehrere Männerrücken vor mir. Ich tropfe und kann nichts dagegen tun. Denn in dem Verkaufsraum der Tankstelle herrscht ein Bullenhitze und mein Kreislauf war gerade eben noch auf hundertdreißig Herzschläge in der Minute eingestellt. Angewidert schielen mich die Bauern an, angwidert weiche ich ihren Blicken aus. Ein Fahrradfahrer. Als ich endlich dran komme, will ich die alte, leere Flasche gegen Pfand eintauschen und werde von dem Verkäufertypen angewiesen den Automaten zu benutzen. Der steht auf der anderen Seite des Raumes und ich tropfe ihm meine Flasche ins geöffnete Maul, tropfe dann zur Kasse zurück und platsche ein Zettelchen auf die Theke, krame Kleingeld aus dem Sportrucksack, und ziehe dann endlich mit einem neuen Liter Sprudel von Dannen. Ich hasse die Zivilisation.  


Brettljause
Die freundlich riechende Hacklbergalm kreuzt unseren Weg und wir haben einen riesen Hunger. Und auch Durst. An einem der groben Tische auf der Veranda mit dem gigantischen Ausblick machen wir es uns gemütlich, und während ich mich darüber wundere, daß die beiden überzeugten Weißbiertrinker Matti und Flo sich ebenso wie ich ans Radler halten, verschlinge ich einen Berg zähen Schinken und Käse mit Brot. Eigentlich hab ich das nur wegen dem Namen bestellt. Mir war eben nach „Brettljause“. Klingt für meine norddeutschen Ohren eher nach einer ausgelassenen Party, als nach einem Berg Brot mit rohem Fleisch. Der besoffene Gastwirt ermahnt mich breit grinsend in seinem Kauderwelsch, daß ich Alles aufessen soll, ich grinse schmatzend zurück. Die meisten die hier sitzen, sind fitte Wanderrentner. Bergerprobt und abgeklärt schauen die Alten auf uns junges Gemüse. Man lächelt sich zu, und freut sich irgendwie, daß es hier so schön ist. Ich glaube, die Heimatfilme hatten irgendwie ein bisschen Recht. Eine Jugendgruppe kullert den Berg auf Hardtails hinunter. Mindestens dreißig Leute sammeln sich um einen Mann, der nicht unbedingt nach einem Bergführer aussieht. Wir wundern uns darüber, daß die Jugendlichen weder mit Protektoren bekleidet sind, noch besonders gute Mountainbikes haben. Vor Angst, sie könnten vor uns auf den Trail fahren, beeilen wir uns bei dem grinsenden Wirt zu zahlen. Wie immer ist es wieder Matti, der als erster den Berg hinunterstürzt. Der Trail ist wieder saukompliziert und macht mir Mühe. Obwohl mein Magen den Berg Käsefleisch verdauen will, muss er mit. Matti und Flo kann ich schon wieder nicht sehen. Irgendwie spüre ich, daß meine Aufmerksamkeit mitsamt meiner Kraft schwindet und ich will vorsichtig sein. Doch auch das ist garnicht so einfach, denn gewisse Teile des Trails erfordern eine Geschwindigkeit, auf die ich gerade keine Lust habe. Trotzem, oder vielleicht gerade deswegen rutsche ich unvermittelt auf einer riesigen Wurzel aus, die sich mir in den Weg schiebt. Dieses Mal bleibe ich mit dem Rad zusammen auf der Wiese liegen. Schnell rappel ich mich aber wieder auf und fahre den beiden Anderen hinterher. Ich erwische sie hinter einem recht hohen Hügel, den ich wie alle Hügel mit nach hinten gestrecktem Arsch und halb angewinkelten Beinen fahre. Außer Atem will ich ihnen von meinem lezten Sturz berichten, da bemerke ich, daß Flo schwer atmend am Abhang sitzt, beide Beine von sich gestreckt, und Matti auf ihn einredet. Flo ist auch gestürzt. Bei dem Versuch eines Sprunges ist er neben dem Weg gelandet und hat sich ein paar mal mit dem Rad überschlagen. Sein Lenker hat sich dabei in seinen Oberschenkel gebohrt. Er will uns zeigen wo der Schmerz ist, zieht sein rechtes Hosenbein hoch und wir sehen sie: Eine knallrote Beule, in der Mitte kalkweiß. Groß wie ein Handball.  


Du büs Kropperbusch no ni vörbi
Das Schönste an dieser Landschaft hier ist eigentlich der Wald. „Du büs Kropperbusch no ni vörbi“, so prangt das Schild an dem Gasthof kurz vor dem Wald, in dem irgendwann mal die Räuber gehaust haben sollen. Die Händler, die einst über den „Ochsenweg“ kamen, eine vielbereiste Handelsstraße des Mittelalters, erschraken sich wohl zu Tode, wenn sie diesen Kampfruf hören mussten. Den ehemals riesigen Wald hatten sie fast durchquert, als man ihnen hier nach dem Leben trachtete. Die Räuber hätten allerdings heutztage wohl eher Probleme Schutz im Schatten des Waldes zu finden, denn der „Kropperbusch“ ist leider nach den letzten Herbststürmen ziemlich zusammengefegt worden. Wie Strohhalme sind hier die großen Nadelbäume umgeknickt worden. „Ein Bild des Trauers“ denke ich und wundere mich über das Ausmaß der Zerstörung. Und auch über meine Geschwindigkeit. Ein seltenes Glück: Rückenwind! Der Weg von Kropp nach Rendsburg stellt mich günstig. Dazu fahre ich auf einem frischen Fahrradweg, der so neu ist, daß er wie für mich gebaut aussieht. Später auf meinem Navi sehe ich, daß ich hier die 35 Km/H – Grenze überschritten habe. Ich fliege durch die Bäume. Nicht schlecht für nur einen Gang. Meine Beine fliegen wie die Nadel einer Nähmaschine. In meinen Augenwinkeln sehe ich bei Tetenhusen das „Haus mit Herz“. Tatsächlich existiert dieser Puff schon seit mindestens fünfunddreißig Jahren hier mitten in der Norddeutschen Geestlandschaft. Meine Mutter hat immer etwas süffisant gegrinst, wenn wir Kinder begeistert auf das leuchtende Herz auf dem Dach des alten Bauernhauses deuteten. Für uns stand das Herz irgendwie für eine spleenige Idee des Hausbesitzers. Ein Freund der Liebe vielleicht? Oder Hippies, die durch dieses Zeichen ihre Botschaft der Liebe mit der Welt teilen wollten? Ich fühle mich konditioniert, denn ich merke, daß dieses rote Icon bei mir immer noch funktioniert: Ich freue mich. Vielleicht auch nur darüber, daß ich nun gleich zu Hause bin.


Plastikkrieger
Zum Glück ist es nicht mehr weit bis zur Bodenstation. Nachdem sich Flo von einem heftigen Schwindelanfall erholt hat, nimmt er sich sein Fahrrad und humpelt in Richtung Häuser. Ich muss an den Unfall von vorhin denken, den Schlüsselbeinbruch. So schlimm hat’s Flo zum Glück nicht erwischt. Die letzten paar hundert Meter des Trails machen Matti und mir jetzt keinen rechten Spaß mehr. Unten überlegen wir uns, was zu tun ist. Der örtliche Spar-Markt wird nach Trinkbarem durchsucht, und wir telefonieren mit meinem Weib und Sohn. Wir werden die beiden auf der Panoramaalm treffen. Die bange Frage, ob Flo das wohl schaffen wird, kommentiert er mit wortlosem Gehumpel zu seinem abgestellten Fahrrad. Aber vorher muss er uns nochmal die Beule zeigen. Sie ist größer, röter geworden und zieht sich nun über den kompletten Oberschenkel. Ich will ihn überzeugen im Tal zu bleiben, aber davon will er nichts wissen. Also nochmal die Straße im Tal, zurück zur anderen Gondelstation gefahren. Ich erzähle Flo, daß er am besten in Bewegung bleibt, dann würde die Schwellung nicht so mächtig, was sich später leider als falsch erweist. Er tritt mit nur einem Bein in die Pedale, und ich frage mich, wie er so noch einen Trail fahren will. Die Gondelstation ist wie leergefegt. Wo heute Morgen noch mindestens hundert Biker standen, sind wir jetzt die einzigen. Die Nachmittagssonne scheint freundlich auf uns herab, als wir meine Familie treffen. Mein Sohn macht Augen: Sein Vater ein Plastikkrieger. Von Respekt aber keine Spur, er will unbedingt meine Beinprotektoren anlegen. Wärend wir Kaffe und Kuchen auf der Panoramaalm bekommen und unsere Erlebnisse des Tages austauschen, zerrt er vergeblich an den durchgeschwitzen Dingern herum und ist entäuscht, daß sie ihm nicht passen wollen.  


Dusche
Die B77 ist eigentlich objektiv betrachtet eine recht schöne Straße. Wenn sie nur keine Straße wäre. Oder anders gesagt: Von der B77 kann man so einige hübsche Ausblicke genießen. Dort, bei Sorgwohld zum Beispiel, wo sich das kleine Flüsschen Sorge durch den Wald schlängelt, da würde ich gerne mal eine Pause machen. Leider fahren auf der B77 ziemlich viele Autos. Die würden dummerweise das schöne Bild zerstören. Deshalb eile ich weiter. Die Schleswiger Chaussee beginnt hinter zwei große Abfahrten und einem Kreisverkehr. Vorbei an diesen fiesen Verkaufsmärkten wo meine Eltern immer hinfahren um Unterhosen und Käse zu kaufen, vorbei an der alten Kaserne, deren Niedergang auch Rendsburgs Niedergang war, da hier vor knapp zehn Jahren plötzlich ein Haufen solvente Soldaten wegzogen, vorbei auch an dem zweiten Puff meiner Tour, sieht heruntergekommener aus als der erste, vorbei an dem Autohaus meines ehemaligen Klassenkumpels Hauke, den sie vor fünf Jahren wegen unlauterer Geschäftspraktiken am Wickel hatten und der nun kein Geschäftsführer mehr sein darf (ich frage mich, ob er wohl jetzt Rad fährt), vorbei auch an dem Friedhof, auf dem Familienangehörige begraben wurden und schlußendlich der grüne Kranz, eine vierspurige Straße, die meinen Weg quert. Ich bleibe an der Ampel stehen. Das war der Sprint. Ab hier gondel ich selbstvergessen in die Siedlung meiner Eltern. Der Vorgarten meiner Mutter explodiert vor Blumen und zaubert mir ein Grinsen ins Gesicht. Meine Mutter will nicht glauben, daß ich die knapp siebzig Kilometer in zweieinhalb Stunden abgerissen habe. Zufrieden stelle ich mich unter die Dusche. Sie macht mir die Kartoffeln vom Mittag warm.  


Nackt
Den Rückweg fahren mein Sohn und Weib mit der Gondel. Wir mit dem Fahrrad. Eigentlich wollen wir ja noch zur Spielbergalm und den Tag mit einem Bier beschließen, aber an einem Metallrost, der über einem Gebirgsbach gelegt ist, platzt unvermittelt Mattis Vorderreifen. Er schickt uns weiter, wir würden uns später auf der Alm treffen. Doch auch das scheint uns verwehrt. Einen Kilometer weiter ist der Forstweg zur Alm gesperrt, und wir fahren weiter ins Tal. Dort treffen wir später einen verärgerten Matti. Der Tag ist nicht so zu Ende gegangen, wie wir uns das vorgestellt hatten. Wir säubern unsere Räder mitten auf einem Platz im Dorf mit einer kräftigen Wasserspritze, um die sich nun die Biker mit ihren Schätzen versammeln. Irgendwie sehen hier jetzt alle müde und abgekämpft aus, garnicht mehr so heldenhaft wie vorhin. Ich fühle mich plötzlich zugehörig. Zwischen den bunten Gestalten an der Wasserspritze entsteht sowas wie ein stilles Einvernehmen. All die Zeichen auf den Körpern haben jetzt ihre oberflächliche Bedeutung verloren und endlich scheinen alle ihre Bestimmung erreicht zu haben. Als ich das knallgrüne KTM wieder zurück in den Bikeshop bringe, von dem ich es ausgeliehen hatte, berichte ich dem desinteressierten Händler von unserem kleinen Trip. Und während ich seine gelangweilten Nachfragen artig beantworte, halte ich den Lenker mit meinen Händen nochmal fest, ziehe an den Handbremsen und drehe mit meinem Fuß spielerisch an der Pedale. Es gibt mir einen kleinen Stich, wie es dort neben den anderen, baugleichen zum Abschied vor sich hin tropft. Draußen dann, zu Fuß, fühle ich mich weich und unerträglich nackt.

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