Ein Experiment

Man hätte meinen können, der Frühling wäre ausgebrochen. Der Schnee war nur noch eine leise Ahnung der letzten Monate und die Menschen der Stadt hatten nichts besseres zu tun, als sich flanierend in den sonnenbeschienenen Parks gegenseitig zu bestaunen. Die Jogger meinten vielleicht, sie würden auf eine Art wertvoller sein, mit ihren in Funktionskleidung gehüllten Leibern, die sie sich insgeheim als makelloses Beispiel eines glatt dahingleitenden Lebens erträumten. Ihre hocherhobenen Köpfe schienen sich über die der Spaziergänger erheben zu wollen, ja, wenn jemand aus grösserer Entfernung das Treiben beobachten konnte, dann musste es ihm so erscheinen, als wenn ihre Häupter sich in Sekundenbruchteilen über die der Anderen erheben wollten, so wippten sie mit ihrer Gesundheit auf und ab. Die Bewegungslosen im Park, die Biertrinker und Liebespaare, die Banksitzer und Eltern, mürrisch auf ihre spielenden Kinder wartend, sie waren die, die das Bild als ein eigentlich stilles festhalten wollten. Ihre Bewegungslosigkeit gegen die aufgeplustert aktive Gesellschaft, gegen die sie sich in diesem Moment entschieden hatten.
Einer von Ihnen war der alte Honkong- Chinese. Auch er stand still. Das Merkwürdige war, dass er sich sogar mitten auf dem breiten Schotterweg hingestellt hatte, der sich neben dem lächerlich quadratisch einbetonierten Wasser befand, auf dem drei Paar Schwäne von den vorbeigleitenden Augen der Menschen bewundert ihre Kreise drehten. Seine Blicke zuckten wild hin und her. Das lag daran, dass er alle Aktivität seines Körpers auf die Augen gelegt hatte. Die Muskeln an den Augäpfeln waren trainiert und ausdauernd, er konnte stundenlang da stehen und seine blitzschnellen Blicke in alle Richtungen abfeuern. Alles an ihm war angespannt und in höchster Alarmbereitschaft. Musste der Standort doch verteidigt werden. Seine Kappe war wie von einer anderen Hand als der seinen auf den Kopf gelegt worden, als wenn ihn jemand mit einer Statue verwechselt, und sich so einen Scherz an ihm erlaubt hätte. Vielleicht war es auch nur sein Trick, um sich die Menschenmassen so vom Leib zu halten, denn man dachte, dass durch einen Stoß die Kappe bestimmt heruntergepurzelt wäre, und aus irgendeinem merkwürdigen Grund wollte das keiner der Flaneure riskieren. Alle machten einen großen Bogen um das stille Männchen.
Er beobachtete Jedes Gesicht, dass an ihm vorbei glitt. Und nicht nur das: er beobachtete auch die Gesichter der Stehenden. Und er prägte sich jedes Gesicht ein, zwar nur sehr kurze Zeit, aber immerhin so, dass er sich später an jedes Gesicht erinnern konnte, das ihm an diesem Tag begegnet war. Das war eine Arbeit! Die hohe Konzentration auf sein Geschäft ließ ihn alles Andere um sich herum vergessen. Seinen Blicken entging nichts, nicht der Schweißtropfen des Joggers, der von dessen Nase auf den feucht glitzernden Weg fiel, nicht der richtungslose Griff des Säuglings in dem Kinderwagen nach einem im Sonnenlicht reflektierenden Staubkorn und auch nicht der unsichere Blick des jungen Mannes, der eine ähnliche Kappe wie er trug, zwar von neuerem Fabrikat, allerdings genau so wie die seine nur lose auf den Hinterkopf gelegt.
Doch die Wahrheit ist, dass er garnicht wusste, dass er den Spaziergängern den Weg verstellte. Seine Konzentration galt nämlich einem Experiment: „Je schneller ich mich bewege, umso mehr halte ich die Zeit an“, so dachte er. Und da das Schnellste an ihm seine Blicke und sein Gedächtnis waren, hatte er sich diese als Instrument genommen, um zu sehen, wie es wäre, die Zeit anzuhalten. Vielleicht war er auch nur sehr einsam, das hätte man nicht mit größerer Sicherheit sagen können, aber am Abend dieses ersten Frühlingstages fühlten die Menschen, die sich ein paar der Sonnenstrahlen im Park gegönnt hatten, eine besondere Form von Glück: Sie waren heute nicht älter geworden.

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