Epidemie

„Da ist etwas mit dem Regen herunter gekommen.“ Mein Freund D. sagt das mit einem Stirnrunzeln, den Blick gen Himmel gewandt, als wenn von dort noch mehr zu erwarten wäre als der Bindfadenregen, der nun schon seit Stunden die Stadt verfinstert. Meine Halsschmerzen sind allerdings schon fast verschwunden, als ich einen Tag später in zaghaftem Sonnenlicht den Kinderwagen die Flaniermeile der Konsumwilligen entlangschiebe, mich darüber wundernd, wie viele Menschen an einem Sonntag vor den Geschäften stehenbleiben, um sich über die Auslagen zu beugen. Wenn Sie an den anderen Tagen kaufen müssen, haben sie zumindest einen Tag, um das Gekaufte zur Schau stellen zu können. Das stellt ein extrem befreiendes Gefühl an diesem sonnigen Sonntag her.
Am kürzlich installierten Bungee- Trampolin auf dem Rudolfplatz mache ich halt. Kinder interessieren meinen Sohn meistens, er ist ja selbst fast schon eins. Eine Familie umringt strahlend eines der Spielzeuge. Der vielleicht achtjährige Sohn baumelt stur auf und ab, sein Vater zieht grinsend an den Seilen, als wenn er dadurch den Spass seines Sprößlings vergrößern würde. Die Wahrheit aber ist, er weiß nicht, was er sonst tun soll. Mutti hat Tochter in der Babytrage vor ihren Bauch gehangen. Die scheint noch zu klein für das Schaukelhüpfen, allein, die Babytrage passt rein ästhetisch hervorragend zu Mamas Kleid! Auch sonst ist die Vorzeigefamilie sehr gut angezogen. Ich sehe Coco Chanel an Mama, ich sehe Petit Bateau und G-Star an Tochter und Sohn, ich sehe Polo an Papa und ertappe mich selbst dabei, wie ich mich für meine Wahrnehmung hasse. Mein Starren bleibt jedoch seitens der Gutgekleideten nicht unbemerkt. Das Kleid dreht plötzlich seinen Blick zu mir und bleibt mit größtmöglicher Verachtung an unserem Kinderwagen hängen, der hin und wieder auch als Fahrradanhänger dient und aus solcher Funktion heraus gerade naturgemäß ziemlich mit Dreck bespritzt ist.

Ich wende mich brüsk ab von der lebenden Hamburg- Mannheimer- Werbung und schiebe schon deshalb weiter, weil sich mein eigenes Kind kaum für das bunte Treiben interessiert. Eine Straße weiter kehre ich ganz um. Ich will in den Park. Der erscheint mir doch Kinderwagenkompatibler als der enge Bürgersteig, auf dem man ständig Pärchen und staunenden Touristen ausweichen muss. An drei männlichen Gestalten vor mir komme ich nun aber garnicht erst vorbei. Die Drei sind in ein Gespräch vertieft, das offensichtlich den gestrigen Ausgang der Gay Games, die gerade in Köln statt fanden, zum Inhalt hat. Ich tippe auf Läufer. Zwischen kurzen, engen Hosen und Laufschuhen entspannen sich sensationell muskulösen Beine. Und dann passiert der Faux Pas: Ich ramme einem der Typen vor mir den Kinderwagen in die Athletenwaden! Ich war wohl einen Moment unaufmerksam! Gleich den Sonntagspassanten um mich herum, war auch mein Blick in die Auslagen eines hiesigen Hutverkäufers gerichtet, so daß ich den geringen Abstand zwischen Kinderwagenspitze und nacktem Bein nicht bemerkt habe! Ich entschuldige mich auf die allerfreundlichste Art, die mir in diesem Moment einfällt, und zu meiner Verwunderung lächelt mir der so Beschädigte direkt in die schuldbewußten Augen und entschuldigt sich seinerseits! Als wenn er, an dem nun knapp über seinem Schuh eine rötliche Stelle abgeschabter Haut leuchtet, verantwortlich zu machen wäre für unseren unglücklichen Zusammenstoß. Glücklich vereint mit Welt, Kosmos und Gay Games setzen wir unseren Weg weiter fort, als uns just in diesem Moment die Familie von Vorhin entgegen stolziert. Vater links, den Sohn an der Hand, Mutter rechts, das Prinzesschen vor sich her tragend, den Rücken emporgereckt und den Blick abschätzig in die Menge der Entgegenkommenden gerichtet. Wie ich diese Erscheinung hasse! Am liebsten möchte ich die Straßenseite wechseln. Doch dafür ist nun keine Zeit mehr. Schon deshalb, weil ich meines Sohnes Fahrradanhänger schiebend, dem verschmutzten, gleichsam eingekeilt bin zwischen schwulen Laufathleten und bummelnden Schaufensterkuckern. Doch meine Angst, der schreckliche Blick der Bessergestellten würde wieder auf mich und meine erbärmliche Kindertransportausrüstung fallen wird in jähe Schadenfreude verkehrt, als einer der vor mir ins Gespräch vertieften Sportler den arrogant schweifenden Blick der Mutter und Kleidträgerin mit seiner Schulter zum erliegen bringt. Wie unbemerkt rammt mein Held seinen trainierten Bizeps in die Seite der Frau, die augenblicklich wie aus einem fernen Traum erwachend in sich zusammensinkt und den Weg frei gebend stehenbleibt. Nicht ohne mit ihrem verständnislosen Blick ihren Peiniger zu verfolgen, der aber mit keiner Miene auf das gerade Geschehene einzugehen bereit wäre, ja, er hat es wahrscheinlich noch nicht einmal bemerkt. Meine Schadenfreude weicht, als ich nun nah genug an der Geschädigten vorbei gehe, um die Falten an ihren Augen zu sehen, die mir sagen, daß sie doch viel zu lang auf Kinder und Chanel hat warten müssen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen