Mitleid.

Erstaunlich, wie hell so ein Körper sein kann. Wie angemalt. Mit zähflüssiger Lackfarbe angemalt. Der Grundton weiß, vielleicht leicht abgetönt mit einem Schuß ins Gelb. Oder Braun. So glatt und durchgängig angemalt. Da ist kein Fehler, keine Lücke in der Oberfläche. Man sucht ja fast nach Riefen oder Falten, die das Alter anzeigen würden. Aber da ist nichts. Die Muskeln sind definiert, wie es so schön heißt, sie spielen sich als leichte Verwerfungen auf. Eine Landschaft aus sanft auf- und absteigenden Hügeln, die nichts fordert, auf nichts verweist, einfach ist.
Seine Bewegungen sind durchaus zackig. Von geradezu militärischer Präzision. Wahrscheinlich duscht er sein ganzes Leben schon so: rechtes Bein hinten, rechtes Bein vorn. Linkes Bein hinten, linkes Bein vorn. Dann rechter Arm, linker Arm, Rücken, dann Bauch, am Ende dann der Kopf und dann die Prozedur komplett wieder zurück. Da wird nicht lang drüber nachgedacht, da wird einfach geduscht. Eine Sache von nicht mehr als dreissig Sekunden. Das fällt mir auf, weil ich das ja genau so mache. Sonst wüsste ich auch nicht, daß ihm diese Bewegungen in Fleisch und Blut gegangen sind. Ich muss da ja auch nicht mehr drüber nachdenken. Genau so sieht es bei mir übrigens auch während des Abtrocknens aus. Das geht Zackzack! Ha!

Später, im Umkleideraum fällt mir auf, daß er auffallend zuvorkommend ist, als er seine Trainingstasche beiseite schiebt, um mir Platz zu machen, damit ich meinen Spint aufschliessen kann. Aus seinen Augen fällt dann ungelenk sein Alter. Anfang vierzig.
Ich erinnere mich an den Eindruck seines makellosen Körpers unter der Dusche und an meine Blicke, die nicht ohne Neid waren und sehe jetzt die Geschmacklosigkeiten moderner Textilindustrie an ihm. Tatsächlich! weiße Socken und unmögliche Hosen. Ob ihn seine sportlichen Aktivitäten dahin getrieben haben? Ein nervöser Blick streift seinen am Boden liegenden Schlüssel, den er offensichtlich für einen Moment verloren geglaubt hatte. Hastig und verschwitzt gelingt ihm ein halbes Lächeln in meine Richtung. Das ist ihm genug Abschiedsgruß (wir kennen uns ja nicht).
Ich bin froh: Ich habe Mitleid mit ihm.

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