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Zug verpasst. Dummerweise soll sich später herausstellen, daß die Platzreservierung von Nöten gewesen wäre, nun ja. So also heute wie sonst immer "ohne". Da ich ein halbes Tonstudio mit mir herum schleppe, entscheide ich mich in Hamburg- Dammtor, ein Monster von schwarzem Koffer mit mir herum ziehend, für den Aufzug. Vor ihm ungeduldig von einem Bein aufs nächste tippelnd zwei Mädchen, vielleicht sechs und sieben Jahre alt, zusammen mit ihrer Mutter auf die Ankunft des Panzerglaskäfigs wartend, hinter uns ein Fahrradfahrer, komplett in Campagnolo- Ausrüstung. Hautenge Hose und Oberteil in blau und gelb. Ein Farbklecks mitten im Bahnhof. Erstaunlich, daß sowas in dem ehedem schon bebunteten Innenleben der eigentlich nur aus Kaffe- und Lebensmittelverkaufsständen bestehenden Passage überhaupt möglich ist. Scheele Seitenblicke auf den Farbfetischisten wagend, erkenne ich eine Art Behinderung. Der ängstliche Blick, ein linkisches Verzerren des Mundes, vielleicht ist es auch das merkwürdig angewinkelte Bein, das scheinbar gewollt lässig auf einer Pedale seines Rennrades ruht, das irritiert. Mehr noch, man fragt sich, was so ein Rennfahrer, ausgerüstet um in zwanzig Grad Schieflage eine französische Kurve zu nehmen, denn in einem Bahnhof vor einem Aufzug macht. Genau das denken wohl auch zwei junge Türken, die gegenüber einen Dönerstand bewachen, beide mit nackten Unterarmen auf einer frisch geputzten Glastheke stützend. Unablässig grinsen sie zu dem immer unsicherer werdenden Sportler herüber und stoßen sich gegenseitig in die Rippen und raunen sich auf türkisch Gemeinheiten zu. 
Der Aufzug kommt. Langsam, betörend langsam schiebt sich der Glaskäfig aus dem Keller hoch in unsere Ebene. Eines der beiden Kinder hüpft vor Aufregung an der Hand ihrer Mutter, hinter dem Glas erscheint ein Glatzkopf, gefolgt von einer weißen Jacke, zweireihig geknöpft, ausgefüllt mit  hundert Kilo Kochpersonal. Der Glatzkopf, offensichtlich ungerührt des genau vor ihm auf- und abspringenden Mädchens blickt stur geradeaus, durch die blumig bestrumpften Beine der Kleinen hindurch und greift mit einer ähnlichen Langsamkeit wie der ihn tragende Aufzug selber hinter sich an das Gestänge eines bis oben hin mit undurchsichtigen Plastikbehältern beladenen Wagens. Synchron zu seinem jetzt plötzlichen Zugriff bleibt das Ding mit einem Satz stehen, die Landung erstaunlich holprig, nachdem der Anflug doch wie eine eindringliche, allzu eindringliche Vorführung von moderner Aufzugtechnik wirkte.
Ohne uns eine Blickes zu würdigen, zieht die weiße Jacke laut rumpelnd den Wagen hinter sich über die Schwelle, die beiden Kinder lösen sich kichernd und johlend von linker und rechter Hand ihrer Mutter, stürmen in den Innenraum zu den verheißungsvoll blinkenden, lächerlich überdimensional großen Knöpfen hin. Doch Mutti hält sie zurück, nicht ohne mir freundlich zuzuzwinkern, die lieben Kleinen, wollen auf die dicken Dinger drücken, doch der Herr muß ja auch noch mit. Der bunte Mann auf seinem Fahrrad muß sich wohl weiter zum Gespött der beiden Angestellten in der Dönerbude machen, denn der kleine Raum bietet zu wenig Platz für uns alle Vier. Ein wenig leid tut er mir schon, aber was muß er auch so viel optisches Aufheben um seine sportlichen Ambitionen machen. Selber Schuld.
Mit Schwung bringe ich das dicke Koffermonster vor dem Glas an der Rückseite zur Stellung und will gerade zu einem der Knöpfe greifen, da durchschneidet ein spitzer Schrei die Szenerie. Zwei große Kinderaugen starren entsetzt in die meinen, ein fast kräuselndes, zitterndes Kinn und eine Unterlippe, die gerade beginnt sich nach vorne hin zu verändern, eine Kinderhand greift hilfsuchend zur Mutter, die mir mit einem Verständnis erheischenden Lächeln und einem knappen Seitenblick auf ihre Tochter erklärt, daß die Kleine drücken will. Die dicken Knöpfe. Die so rot leuchten. Hübsch wie Weihnachtsverzierung. Natürlich, meinetwegen, habs nicht eilig. Ich könnte jetzt auch gut einen verständnisvollen Vater abgeben, so wie ich hier stehe, lächelnd - jaja, das kenn ich doch aus meiner Kindheit, da wollt ich auch die Knöpfchen drücken, im Aufzug, damals - in dem Hochhaus von Tante Kerstin. Ein wesentlich grösserer Spass, denn wir hatten da immerhin einundzwanzig Stockwerke. Und die Knöpfe waren mit Zahlen verziert, zwar schon ziemlich am abblättern, aber  die Zahlen waren zu erkennen. Ein Glück für mich damals, daß wir immer nur in den fünfzehnten Stock mussten. Höher kam ich nicht mit meinem Arm. Da hat es die Jugend von heute leichter, die haben dicke Weihnachtsknöpfe in rollstuhlgerechter Umgebung, Emergency-Stop- Atombombenexplosionsknöpfe zum ordentlich drauf Rumkloppen! Ha! Da soll noch einer behaupten, es würde in öffentlichen Räumen heutzutage nichts für spassigen Kinderspaß getan! Knöpfe! So groß wie Tennisbälle! Ha! Allerdings nur vier Stück.
Glückseeligen Kindergesichts holt die Kleine mit der flachen Hand weit in den engen Raum aus und haut so fest sie eben sechsjährig dazu imstande ist auf das rote Ding, unter dem in Helvetica- Condensed "BAHNSTEIG" geschrieben steht. Etwas beleidigt stiert ihre ältere Schwester zur Mutter hin, die ihr zuzischt, ohne ihr Lächeln von mir zu wenden: "Du bist nach unten dran!"

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